Der Prozess

Fasar, 01. Phex 1035 BF. Langsam kehrte Ruhe auf dem Basar der Teppichknüpfer ein, auf welchem im letzten Licht der Praisosscheibe die kostbarsten Stücke in warmen Farben leuchteten. Die Teppiche waren jedoch nicht der Grund, warum jetzt kurz vor Beginn der Peraine-Stunde immer mehr Leute auf den Basar strömten. Nein, sie alle waren gekommen, um mir, dem Haimamud, zu lauschen. Mir, der ich versprochen hatte, zur Peraine-Stunde den Geschichtenzyklus um Rashid al’Fessir ben Hairan al’Kira ibn Nasir al‘Alam weiterzuerzählen.

Das Mittelreich kennt diese Geschichten unter dem Titel „Die sieben Gezeichneten“. Hier aber, im Land der ersten Menschen, kommen in den Geschichten zwar auch sieben Gezeichnete vor, jedoch ist es vor allem der ruhmreiche Rashid, ein Sohn unseres Volkes, mit dem wir zittern und von dem wir hören wollten. Ich habe die Geschichte bestimmt schon hunderte Male erzählt. Trotzdem fesselte Sie mich jedes Mal aufs Neue. Würde es mir diesmal wieder gelingen, die Saat in die Herzen der Kinder auszubringen? Ich war mir nicht sicher. Dies war immerhin Fasar, die Mutter allen Eigennutzes.

Ich nahm noch einen letzten Biss von der Melone. Dann wischte ich mir betont langsam den Mund ab. Jetzt war die Menge so weit. Sie wartete gebannt darauf, dass ich begann.

„Wo waren wir gestern stehen geblieben?“ frug ich eines der Kinder, die sich in den vorderen Reihen vor dem Teppichstapel niedergelassen hatten, auf welchem ich saß. Aus irgendeinem Grund mochten es die Kinder immer, wenn Sie mir helfen konnten, wieder in die Geschichte zu kommen.

„Sahib, du hattest erzählt, dass sich die Mittelreicher und Rashid auf eines der Zimmer zurückzogen, um zu beraten, wie sie die Verteidigung im Prozess gegen die Elfe organisieren sollten.“

Der Prozess. Einer der zentralen Punkte im Leben Rashids. Wenn ich es schaffte, den Kindern zu vermitteln, wie dieser Prozess Rashid veränderte, wäre sehr viel gewonnen. Ich entschied mich langsam in die Geschichte einzusteigen, um auch den Zuhörern die Möglichkeit zu geben, sich in die Situation hinein zu versetzen.

„Da saßen sie also alle zusammen, der Junker Wolfhart Raibridar von Horigan zu Welmshof, der fremdländische Haimamud Emmeran Tannhaus, der Diener des Raben Bruder Cordovan und der ehrenwerte Rashid al’Fessir ben Hairan al’Kira ibn Nasir al‘Alam und beratschlagten, wie die Verteidigung der Elfe am besten zu bewerkstelligen sei. Schnell kamen Sie überein, dass der Junker im Archiv nach Präzedenzfällen suchen solle und der Rest der Gruppe sich noch einmal mit dem Geschöpf aus dem Geschlecht der Elfen, der Eisblume des Nordens, der Angeklagten Liasanya unterhalten würde.

In dem Gespräch, welches mit der Elfin geführt wurde, erzählte diese von ihren Reisen im hohen Norden, wo immerfort Schnee liegt und es selbst im Sommer so kalt ist, dass man dicke Pelze trägt. Sie erzählte von dem Himmelsturm, von dem Fund der drei Schriftstücke, von ihrem Kampf mit einem der Nicht-Elfen und davon, dass sie den Dolch behalten habe, um sich daran zu erinnern, dass sie schwach geworden sei. Sie erklärte den Gefährten, dass sie beabsichtigt hatte, die Dinge so lange zu behalten, bis sie sie verstanden habe, sie aber nicht habe einsetzen wollen, dass sie sie allerdings auf keinen Fall an irgendwelche Menschen abgeben wolle, da diese alle Magie verderben würden.“

An dieser Stelle konnte ich es mir nicht verkneifen einen Augenaufschlag in Richtung der Al’Achami zu schicken. Dies war ein Wagnis, aber ohne Wagnis würde die Saat nicht aufgehen.

„Auch gab sie an, dass sie die Dokumente nur sehr ungern an da Vanya abtreten würde, obwohl sie ihn eigentlich für einen guten Menschen halte – da er jedoch den Herren Praios verehre, könne sie ihm nicht wirklich trauen. Liasanya erklärte, dass das Volk der Elfen von seinen Göttern verraten worden sei, und dass sie nicht verstehe, warum man Götter verehre. Rashid erzählte ihr daraufhin die Geschichte von dem Ende der Herrschaft der Geschuppten und erklärte ihr, dass dem Volk der Tulamiden durch Fequz viel Glück beschieden wurde und dass sie deshalb Fequz verehren.

Später wies der Bruder Cordovan Liasanya noch daraufhin, dass sie nicht nur sagen müsse, die verwerflichen Schriften nicht benutzen zu wollen, sondern dass dies auch meinen müsse.

Danach verließ Bruder Cordovan die Gruppe und besprach sich mit Sahib da Vanya. Da Vanya bestätigte Bruder Cordovan in seinem Ansinnen die Elfe zu unterstützen und sagte wörtlich „Der Herr Praios könne nicht wollen, dass diese Person auf dem Scheiterhaufen brennen solle.“

Ja, meine lieben Zuhörer so war er der ehrenwerte da Vanya immer bemüht die wahren Absichten des Herrn Praios herauszufinden. Aber kehren wir zu unserer Geschichte zurück.

Der Bruder und da Vanya sprachen nämlich nicht nur über die Elfe. Auch über Bruder Cordovans Traum, welcher von Tod und Verderben und einem Falken handelte und welchen ich Euch am gestrigen Abend geschildert hatte und über den Frevel im Praiostempel sprachen die beiden. Dabei erwähnte da Vanya, die Aufzeichnungen welche die Gruppe im verderbten Praiostempel gefunden hatte gelesen zu haben. Er führte weiter aus, dass es beim Lesen dieser Aufzeichnungen an einen Vorfall vor einigen Jahren denken musste, als der ehrenwerte Meister der arkanen Künste, der große weiße Magus Rohezal vom Amboss gegen ein Kloster von Borbaradianern, jenen Anhängern des verderbten Schwarzmagus Borbarad, vorging. Im Zuge dieses Unterfangens sei nämlich ein Artefakt zerstört worden, welches es selbst Nichtmagiern ermöglichte, Zauber zu wirken. Da Vanya erklärte dem Bruder, dass er vermutete, dass der Splitter, welchen die Gruppe in dem verderbten Praiostempel gefunden hatte, ein Fragment dieses Artefaktes sei.

Nachdem sich der Bruder und da Vanya so abgestimmt hatten besuchten sie gemeinsam Liasanya, an dessen Bett immer noch der Haimamud Emmeran und der große Rashid saßen, und befragten sie noch einmal zu all diesen Ereignissen. Im Anschluss daran geschah dann etwas, was noch Jahre später Auswirkungen auf das Leben Rashids haben sollte.

Aber lasst mich hier zum Abend dieses Tages springen. Am Abend galt es nämlich Gericht zu halten. Und das erste Mal in seinem Leben erlebte Rashid eine Handlung, die für das Mittelreich so typisch wie für einen Tulamiden unvorstellbar ist.

Der Prozess begann damit, dass da Vanya die Verhandlung leitend dem Ankläger Thalion Gorbersin vom Orden der Bannstrahler das Wort erteilte. Dieser malte in einer flammende Rede, wie sie jeder Fasarer Erhabene nicht hätte besser formulieren können das Bild einer durch und durch bösen und durchtriebenen Person, deren Gedanken und Absichten den Schergen des Namenlosen selbst Schauer über den Rücken schicken würden. So überzeugend war seine Rede, dass Rashid selbst anfing, an der Elfe zu zweifeln. Nicht jedoch Bruder Cordovan. Seine Verteidigung bestand daraus lediglich ein Schriftstück vorzulegen, welches er im Anschluss an das Gespräch mit da Vanya und Liasanya hatte aufsetzen lassen und in welchem er sich für Liasanya verbürgte. Nur diese Geste und keine vielen Worte waren es, die den Verlauf des Prozesses änderten. Nicht die Worte, nicht die Reden gewannen sondern die Geste des Vertrauens. Sichtlich verstört musste sich der Bannstrahler jetzt nämlich der Frage da Vanyas stellen, ob er die Ehre des Bruders anzweifle. Da er dies aber nicht tat, blieb ihm nichts anderes übrig, als wie ein geschlagener Straßenköter mir eingezogenem Schwanz den Saal zu verlassen.“

Ich ließ meinen Blick in die Runde wandern. Wie jedes Mal wieder, war auch diesmal die Menge verstört. Das Prinzip Ehre, wie es die Mittelreicher vertreten war diesen Menschen zutiefst suspekt. Außerdem waren sie es nicht gewohnt, dass die Oberen für die Niederen einstanden. Das Gegenteil dessen, Ausnutzung und Unterdrückung, das war es, womit sie jeden Tag konfrontiert wurden. In wenigen Augenblicken sollten Sie jedoch noch überraschter schauen. Sie alle kannten die Geschichte von Rashid al’Fessir ben Hairan al’Kira ibn Nasir al’Alam aber niemand hatte Sie je so gehört, wie ich sie Ihnen nur darlegen würde.

Ich fuhr fort.

„Warum aber hatte dieser Prozess einen so tiefen Eindruck auf Rashid gemacht? Nun wie Bruder Cordovan Rashid später erklärte, hatte er seine Ehre – und diese ist ja offensichtlich im Mittelreich eine Menge wert und so ganz anders zu verstehen als das Farq – für ewig an das Verhalten dieser Elfe gebunden. Denn sollte sie doch irgendwann einmal mit den Gesetzen des Mittelreiches in Konflikt geraten, so würde dies auf den Bruder zurück fallen. Der Bruder hatte also nicht nur für die Vorfälle in Koschtal sondern für das gesamte restliche Leben der Elfe gebürgt. Dies war es was Rashid faszinierte, dass der Bruder so sehr für die Gerechtigkeit einstand, dass er seine Ehre an die zukünftigen Taten Liasanyas hing. Was Rashid aber noch weitaus mehr faszinierte, war, dass das Gericht diese Aktion anerkannte! Hätte doch jeder Erhabene Fasars laut aufgelacht, ob dieses Vorhabens, so schien diese Art der Rechtsprechung im Mittelreich nicht nur ungewöhnlich sondern üblich.

Liasanya jedenfalls dankte es dem Bruder, indem ihre erste Aktion darin bestand, dass verderblich Schriftstück zu verbrennen.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Rashid schloss sich der Gruppe an. Dabei war es nicht nur sein Wunsch den Weg zurück nach Punin nicht alleine zu bestreiten, sondern auch etwas mehr über diese Menschen zu erfahren, die so anders lebten, als er es kannte.

Allerdings müsst Ihr wissen, dass sich die Mittelreicher nicht nur in ihrer Rechtsprechung von uns Söhnen und Töchtern Zulhamids und Zulhamins unterscheiden. So war Emmeran zwar ein Haimamud, aber eben ein mittelreichischer Haimamud. Und als solcher war er nur geringfügig gesprächiger als die anderen Anhänger der wenigen Worte.

Aber auch ich möchte hier nur noch wenige Worte verlieren. Ist es doch schon spät und mein Stimme fast heiser.

Am folgenden Tag traf die Gruppe eine alte bucklige, grauhaarige Frau mit Falten so vielen, wie der Mhanadi Wassertropfen enthält. Diese stellte sich als Heidruna vor und sollte wenig später an einem Ort in den Krötensümpfen den Junker von seinem Fluch befreien, so dass dieser endlich wieder befreit schlafen konnte. Dass sie in den arkanen Künsten mehr als nur ein wenig bewandert war, erfuhr Rashid am eigenen Leib. Strich sie auf seine Wunde, welche einen anderen Mann noch immer bei jedem Schritt hätte vor Pein aufschreien lassen, doch eine Paste, welche die Wunde dazu brachte sich noch in derselben Nacht zu schließen. Eine Nacht in der Rashid übrigens nur wenig schlief, da Emmeran Geschichten der Gruppe zum Besten gab.

Wie mir Rashid später einmal mitteilte, hatte er sich an jenem Abend gefragt, ob er tatsächlich mit diesen Menschen weiter durch die Welt ziehen wollte. War doch der Bruder zwar mit einem tiefen Gerechtigkeitsempfinden und einem Gefühl für Ehre ausgestattet, was Rashid stark faszinierte, sprach aber nur das allernötigste. Emmeran hingegen sprach durchaus mehr und konnte wunderbare Geschichten erzählen, welche Rashid dabei halfen, das Land der ersten Sonne etwas weniger zu vermissen, jedoch war auch Emmeran Rashid gegenüber recht schweigsam. Und dann war da noch der Junker der Rashids Jähzorn immer wieder weckte. Trotzdem habe er sich entschlossen, diese Menschen weiter zu begleiten. Nach seinen Gründen gefragt erzählte er mir damals, er wisse selbst nicht genau, warum er sich so entschieden habe, aber er sei froh es getan zu haben, zeigten doch die Ereignisse der folgenden Jahre, dass es richtig gewesen sei.

Aber ich schweife ab.

Nach einigen weiteren Tagen im Hause Heidruna zog die Gruppe weiter in Richtung des unsichtbaren Turms des großen weißen Magus Rohezal vom Amboss. Dort angekommen gewahrten Sie ein Gebäude, welches wie aus Glas schien, aber trotzdem das Licht der Praiosscheibe spiegelte und dabei gleichzeitig sowohl massiv als auch durchsichtig erschien. Zu allem Überfluss schien es geradewegs in den Himmel zu führen.

Als die Gruppe Rohezal befragte, was dort oben sei, antwortete dieser nur, es nicht zu wissen, da er noch nie oben gewesen sei. Liasanya jedoch stieg hinauf. Als sie später zurückkam, antwortete sie auf die Frage, was sie dort oben gefunden habe, sie habe Wind gefunden.

Die Zeit, die sie weg war, nutzte die Gruppe um mehr über die Vorfälle zu erfahren, welche sich von einigen Jahren in dem Borbaradianer-Kloster zugetragen hatten. Rohezal erzählte ihnen, dass eine seiner Vertrauten, eine gewisse Azaril Scharlachkraut damals die Vorfälle in dem Kloster untersuchte, jedoch dann der Kontakt mit ihr abbrach, so dass er eine Gruppe ausgesuchter Abenteurer bat, Nachforschungen anzustellen. Diese Gruppe fand heraus, dass die Anhänger Borbarads ihre Seelen opferten um einerseits magische Macht zu erlangen und andererseits mit Hilfe dieser Seelen Borbarad aus dem Reich des  Todes zurück zu holen.

Dann war der Tag des Abschieds von Emmeran gekommen, der eine Schwungfeder des Adlerkönigs, jenem ersten Tier seiner Art, welches noch von TSA selbst Leben eingehaucht bekommen hatte, zu Heidruna zu bringen. Der Rest der Gruppe zog über den Roterzpass weiter nach Punin. Aber was sie dort erlebten, dass ist eine andere Geschichte.“

opa says:

Wirklich ein sehr schöner Bericht.

dpa says:

Kleiner Nachtrag, da sich die Reise zum Turm nicht von selbst erschließt: Heidrunas Hinweis zum Unsichtbaren Turm bezog sich auf Rohezals Tochter Roana vom Amboss, eine ausgezeichnete Vogelkundlerin, in der Hoffnung, dass sie mit der Feder des Adlerkönigs helfen kann.