Der Angriff auf den Nachtschattenturm (Teil I)
20. Boron, am Ufer der Nebelwasser, in Sichtweite des Nachtschattenturms
„Der Herr Praios steh uns bei!“ – Wenn ich einen Dukaten hätte für jeden, der diesen Satz heute schon halblaut vor sich hingeflüstert hat …. Und wenn diese Recken erst wüssten, wer sich unerkannt in ihrer Mitte bewegt, sie könnten nicht entscheiden, in welche Richtung sie ihre Schutzzeichen zuerst machen sollten. Aber ich sollte dankbar sein für diese tat- und schlagkräftige Unterstützung, denn auf uns allein gestellt hätten wir wohl kaum eine Aussicht, hier zu bestehen.
Vielleicht hat Cordovan schon längst erkannt, dass die Zeiten sich ändern und man nur mit vereinten Kräften dem wahrhaft Bösen begegnen kann. Weshalb sonst sollt er sich anders in all der Zeit anders verhalten haben als diese Praiosflüsterer…? Aber so selbstverständlich wie er mich als Gefährten angenommen hat, setzt er auch meine magischen Fähigkeiten als General unserer Truppe ein, bittet er mich doch erneut um einen „Erkundungsflug“ über den Turm. Man sollte doch meinen, dass er nach Luzelins Geschenk und der Erfahrung eines Fluges mit einem Hexengerät etwas mehr Ehrfurcht vor dieser Art der Fortbewegung hätte.
Wie auch immer, ich umrunde den Turm und verschaffe mir einen Überblick über die auf der Insel befindlichen Gebäude, während Wolfhart und Cordovan unsere Leute über die zu erwartenden Gegner und ihre möglichen Schwächen informieren und drei Kampfgruppen einteilen. Dabei beziehen sie Schwester Praiogard, Aaron von Nadur und Kaarina von Pandlaril-Löwenhaupt zu Ulmenau geschickt mit ein, denn deren Führungsqualitäten werden wir ebenso brauchen wie den Mut und die Geschicklichkeit der übrigen Kämpfer.
Die Frage, wie wir die Insel betreten nachdem ich am nördlichen Anlegepunkt jemanden vor das Haus habe treten sehen, führt zu weiteren Disputen, da Schwester Praiogard vor dem Einsatz des Ringes, der angeblich einen Dschinn des Erzes beschwören soll, zurückschreckt. Wir beschließen, dass zwei Gruppen unter Führung von Kaarina und Nadur mit dem Boot übersetzen sollen und das Gebäude an der Nordseite der Insel sichern sollen, während unsere Gruppe mit Liasanyas Hilfe über das Eis direkt zum Turm gehen wird.
Wir setzen den kühnen Plan um und erreichen über das magisch gehärtete Eis die Insel während auf der Nordseite schon ein Kampf entbrennt. Wir verdanken es Cordovans Umsicht, Späher in alle Richtungen auszusenden, dass wir die mit schwerer Rüstung gepanzerte Frau und die zwei Soldaten, die den Turm verlassen um den Kampf am Steg aufzunehmen, bemerken und ihnen aus dem Weg gehen können. Dadurch erreichen wir ungesehen die Eingangstür zum Nachtschattenturm, die zum Glück unverschlossen ist.
Der Vorraum, der etwa die Hälfte des Erdgeschosses einnimmt, wird von flackerndem Fackellicht und dem grünlichen Schimmer von Phosphorpilzen erleuchtet, die Luft ist schwer mit dem Geruch nach Blut, das die Steinplatten des Bodens überall besudelt. Während wir noch nach Luft schnappen, treten uns aus einem Nebenraum drei Gestalten entgegen: ein von Narben gezeichneter hünenhafter Mensch, der etwa 14-Jährige Sohn der Blaufüchsens und der ehemalige Praiosgeweihte Patras Hullheimer. Als wir sie als Vampire erkennen, eröffnen wir sofort den Kampf. Wie erhofft, gelingt es Praiogard, den noch immer lästernden Patras mit gleißendem Licht zu besiegen, nachdem sie ihren Gott anruft. Welch eine Ironie! Im Kampf stellt sich heraus, dass Peldor Blaufüchsen ebenfalls praiosverflucht ist, und der axtschwingende Riese von Peraine verflucht ist, so dass wir beide nach zähem Ringen besiegen können.
Derweil ist Wolfhart bereits durch eine breite Durchgangstür in ein weiteres Zimmer vorgedrungen, wo er eine gepanzerte Gestalt entdeckt, die in einem großen Kreis von goldenen Kelchen, Kerzenhaltern und sonstigen Schätzen kniet. Als Wolfhart den Kreis öffnet, indem er einen Kelch umstößt, fallen ihm erst die überall auf den Gegenständen vorhandenen Praioszeichen auf. Doch es bleibt keine Zeit zum Nachdenken, denn schon erhebt sich die Figur und zieht ein Schwert.
„Nun seid ihr also doch gekommen, um mich zu vernichten!“, dröhnt eine tiefe Stimme, und mit Schrecken starren wir in ein von langen schwarzen Haaren umrahmtes hageres, zerfallenes Gesicht mit spitzen Zähnen und pupillenlosen weißen Augen. Eine fast fühlbare Aura der Boshaftigkeit umgibt die Gestalt, die unter einem zerschlissenen Mantel einen uralten Panzer trägt und drohend auf uns zukommt. Es ist kein anderer als der Erzvampir von Riebeshoff.
Sofort entbrennt ein verzweifelter Kampf, in dem der Vampir auch magische Kräfte einsetzt, um seine Gegner in die Flucht zu schlagen, so dass ihm zunächst nur Cordovan und Praiogard mit dem Mut der Verzweiflung entgegen treten. Nach einer bloßen Berührung des Vampirs sinkt Schwester Praiogard jedoch zu Boden und windet sich in unsäglichen Schmerzen.
Einer Eingebung folgend, attackieren Wolfhart und ich von Riebeshoff mit den goldenen Praiosschätzen wie mit Knüppeln („Der Herr Praios steh mir bei!“), während Cordovan ihn mit der Praios geweihten Waffe der hilflosen Schwester angreift. Der verzweifelte Kampf wogt scheinbar endlos hin und her, so dass schließlich sogar die zuvor geflohenen Kämpfer und auch Liasanya zurückkehren, und nur mit vereinten Kräften gelingt es uns, den Vampir zu vernichten.
Als der Kampfeslärm verebbt, versucht Cordovan auch schon, die verängstigten Gefährten wieder zu ermutigen. Plötzlich öffnet sich wie von Geisterhand die Eingangstür, und draußen steht ein kleiner Mann mit einem faltigen Gesicht in einer Kutte und mit einem Zauberstab in der Hand. Ohne ein weiteres Wort geht Cordovan sofort zum Angriff über.
Eindrücke von Emmeran Tannhaus beim Angriff auf den Nachtschattenturm
dpa says:
Nicht zu vergessen, dass nur der rechtzeitige Einsatz eines Heiltrankes Wolfhart von der Schwelle des Todes gerettet hat.