Sie leuchtet blau
12. Rondra 1016 BF
Den Morgen verbringen wir damit, uns zu überlegen, was wir jetzt tun können, um herauszufinden, ob Nicola de Mott wirklich ein Dämon ist. Wir diskutieren zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Bei der einen würde ich versuchen, de Mott einen magischen Befehl von der Art „zeige Dein wahres Gesicht“ zu geben. Das ist jedoch arg riskant, daher rät mir Emmeran davon ab. Auch nicht begeistert ist er von der Aussicht, mindestens einen Tag auf Cordovans Segen zu warten. Deswegen wäre es ihm am liebsten, wenn wir uns mit den Händlern auf die Suche nach ihrem vermissten Begleiter machen. Bevor wir nun aber eine Entscheidung herbeiführen können, werden wir von einem unglaublichen übernatürlichem Phänomen überrascht.
Wir stehen, wie schon die letzten beiden Tage, für unsere Besprechung in der Mitte des freien Platzes zwischen Tempel und Bergfried. Wir glauben, dass uns hier am ehesten Lauscher auffallen. Auf einmal wird es merklich kühler, einzelne, sehr starke Böen lassen uns frieren. Nicht nur wir bemerken, dass sich über dem Kloster ein Wirbel dunkler Wolken gebildet hat. Es beginnt zu blitzen und zu donnern. Innerhalb von ein paar Minuten hat sich der Himmel so zugezogen, dass man die eigene Hand nicht vor Augen erkennt. Als dann auch noch ein harter, eiskalter Hagelschlag einsetzt, bringen wir uns in Sicherheit. Emmeran rennt anscheinend zu Arthag, um ihn und sich zu schützen. Ich brülle zu den Leuten auf dem Gerüst hinauf, dass sie schnell nach unten kommen sollen und möglichst keine Werkzeuge und andere mögliche Geschosse oben lassen sollen. Als ich mich umdrehe, fliegen jedoch schon die ersten Gegenstände schnell durch die Luft. Ich sehe, dass sich Cordovan schlauerweise zu den Pferden begeben hat. Als einziger hat er daran gedacht, sich um die sicherlich wild gewordenen Tiere zu kümmern. Ich eile zu ihm. Tatsächlich sind die Pferde bereits sehr wild. Es gelingt mir nicht, mein Pferd zu beruhigen, vielmehr kann ich mich nur mit Mühe vor einem Tritt in Schutz bringen. Es dauert eine ganze Zeit, bis wir die Panik unter den Pferden eingedämmt haben. Cordovans ursprünglichen Vorschlag, mit den Pferden aus dem Kloster zu fliehen, lassen wir fallen. Wiederholt hören wir Gegenstände in die Seitenwand des Stalls einschlagen, auch ist irgendwas krachend zu Boden gegangen – wahrscheinlich ein Teil des Gerüsts am Tempel. Durch die Geräusche des Sturmes und der Verwüstung dringt dann aber ein immer lauter werdender, monotoner Choral zu uns durch. Unvermittelt öffnet sich über dem Tempel ein immer größer werdendes Loch, aus dem ein gleißender Sonnenstrahl auf eine Stelle neben dem Tempel fällt. Dort stehen die drei verbleibenden Hüter Emmeran, Bormund und Regiardon, die Ursprung des Chorals sind. Von der Stelle, an der sie stehen, breitet sich das Licht durch das Kloster aus. Die Hagelkörner schmelzen sofort, wenn sie von ihm getroffen werden. Schlagartig füllt sich der Innenhof. Die Brüder und Schwestern des Klosters, immer noch mit panischen und entsetzten Gesichtern, treten zu den drei Hütern und stimmen in ein Gebet ein. Obwohl auch ich ganz überwältig von dem göttlichen Zeichen des Herren Praios bin, entgeht mir nicht, dass hier einer fehlt: Nicola de Mott. Auch Emmeran und Cordovan suchen ihn schon. Wir begeben uns in die Krypta, in die Bibliothek und in den Geheimgang. De Mott ist nirgends zu sehen. Als wir zu dem zerborstenen Fenster seiner Kammer kommen, treffen wir auf Novizin Serkia. Wir sollen uns doch bitte beim Heiler Ucurius einfinden, er brauche jeden, der ihm bei der Versorgung der vielen Verletzten helfen könne. Während Cordovan um das Kloster reitet, um nach de Mott zu suchen, begeben Emmeran und ich uns in die Krankenstube, um zu helfen. Emmeran sucht dort das Gespräch mit den Händlern, lässt sich von ihnen das ominöse Verschwinden ihres Kameraden beschreiben sowie den Weg zu dem Ort erklären, an dem sie ihn zuletzt gesehen haben. Da sich einer der Händler einen Armbruch zugezogen hat, wollen sie sich jedoch nicht wie angedacht auf die Suche nach ihm machen. Ich biete darauf hin an, die Heilung außerhalb der Klostermauern für den Selbstkostenpreis von einer Dukate durchzuführen. Der Händler willigt nicht nur ein, sondern schenkt mir auch einen seiner besten Pelze.
Nun ist es aber Zeit aufzubrechen. Wir gehen zu Hüter Emmeran und Hüter Bormund, um ihnen mitzuteilen, dass wir das Kloster verlassen wollen, um uns auf die Spuren des Vermissten zu machen. Was als eine Geste des respektvollen Umgangs gedacht war, führt gleich wieder zu einer Auseinandersetzung mit Bormund. Gereizt und abweisend reagiert er auf das Verschwinden de Motts, es wird aber auch deutlich, dass er sich in seiner neuen Rolle als dessen Vertreter sehr wohl fühlt. Als Emmeran ihn von Quanions Zettel erzählt, herrscht er uns unwirsch an, dieser sei ein weiteres Zeichen für unsere Schuld. Wofür noch einmal? Wir können erneut nicht fassen, wie Bormund es schafft, alles gegen uns zu wenden. Als wir gedenken zu gehen, weil eine weitere Unterhaltung nun wirklich keinen Zweck mehr hat, weißt er uns an zu bleiben – schließlich sei er es, der hier Gespräche beendet. Nicht wirklich zu unserem Erstaunen eröffnet er uns, dass er die Inquisition gerufen habe. Allein dass er das bereits vor einigen Tagen getan hat und damit gegen den ausdrücklichen Wunsch de Motts – dieser Wunsch erscheint mir nun auch in einem anderen Licht – zeugt schon von wenig Respekt vor der hier zuständigen Obrigkeit. Cordovan kann nicht umhin, Bormund darauf anzusprechen, aber natürlich ist Bormund einfach von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt. Er setzt uns davon in Kenntnis, dass ihm der Greifenfurter Hochgeweihte Anselm Horniger zugesichert hat, Ucurian Jago werde sich höchstpersönlich um einen gerechten Urteilsspruch bemühen. Na Praios sei Dank! Meine vorhin gegenüber den Hütern Emmeran und Bormund gemachte Aussage, dass sich so hohe Herren wie wir drei uns nicht einfach aus dem Staub machen werden, kann ich innerlich gleich widerrufen. Bevor Jago kommt, kann ich mich auch gleich selber anzünden.
Also machen wir uns auf den Weg. Sobald wir die Berge erreichen, bemerken wir auch die Katze, die uns die letzten Tage im Kloster wiederholt aufgefallen ist. Emmeran fliegt auf Cordovans und meine Bitte hin Richtung Passstraße, um zu schauen, wie weit die Bannstrahler wohl noch entfernt sind. Cordovan und mich wird er sicherlich einholen, bevor wir den Ort, an dem der Händler überraschend verloren gegangen ist, erreichen. Leider sehen wir Emmeran früher wieder als erhofft. Leider, denn es bedeutet, dass er nicht lange fliegen musste, um die dann insgesamt an die 15 Bannstrahler zu sehen. Es könnte sein, dass sie schon in der Nacht am Kloster ankommen. Meinen frisch erhaltenen Pelz sowie einige andere Dinge, die ich noch im Kloster habe – so die „gefundenen“ Bücher – kann ich wohl abschreiben.
Gegen Abend kommen wir zu der Höhle, bei der der Händler in einem dichten Nebel verloren gegangen sein soll. Wir finden hier nichts außer einigen Spuren, die wir nicht deuten können. Daher folgen wir weiter dem Pfad in die Berge. Nach etwas mehr als einer Stunde finden wir durch Zufall eine Feuerstelle neben dem Weg. Sie kann, soweit reichen unsere Wildniskenntnisse aus, nur ein paar Tage alt sein. Emmeran findet gar eine Flöte, wie sie üblicherweise von Elfen gebraucht wird. Wir reiten weiter in die aufkommende Dämmerung. Wiederholt finden wir Spuren. Es muss wohl eine größere, nicht gerade auf Vorsicht gedrillte Gruppe sein, der wir anscheinend nachfolgen, denn ansonsten würden wir drei hier sicherlich in den Bergen keine Spuren finden.
Spät suchen wir eine geeignete Lagerstelle. Ich übernehme die erste Wache, um danach in Ruhe zu regenerieren. Jedoch ist mir keine komplette Nachtruhe vergönnt. Ich werde durch Flötenspiel wach. Ich sehe Emmeran auf dem elfischen Instrument spielen, der mich, als er bemerkt, dass ich mich rege, auf die Katze aufmerksam macht. Und was tut sie? Sie leuchtet bläulich! Und sie wirkt entkörperlicht, ätherisch. Dann springt sie plötzlich weg. Wie Emmeran mir berichtet, hat sie ihm kurz vorher ein Bild übermittelt, an das er sich leider nicht mehr erinnern kann.
Ich lege mich noch einmal kurz hin, werde aber bald wie Cordovan von Emmeran geweckt. Beim Aufstehen sehen wir in Reiserichtung die goldene Kuppel eines Berges vor uns liegen.