Ein Tag im Osten Nor Merrins

Ein heftiger Gewittersturm tobt über der Bergkette im Osten Nor Merrins. Kräftige Windböen peitschen kalten Regen über die Felder. Nach einer Weile, in der es nicht so scheint, als wolle dem Gewitter die Kraft ausgehen, geht der Regen in Hagel über, der gleichmütig auf alles einprasselt, was gezwungen ist, sich im Freien aufzuhalten.

An einem anderen Ort, tief in den verwinkelten Höhlen seines Volkes, bekommt ein Darkon von alle dem nichts mit. Die gebeugte Gestalt des Priesters sitzt auf der Kante eines hohen Lehnstuhls an einem schweren hölzernen Tisch. Gedankenverloren studiert er ein Pergament, das gedrängt zwischen Schreibutensilien, mehreren Stapeln Schriftrollen, einer Handvoll Briefe und einigen alten Büchern liegt. Die Kerze auf dem Tisch ist längst erloschen, die Tinte an der Feder des Darkon lange getrocknet. Nur eine einzelne Öllampe, die von der Decke hängt, taucht die kleine Kammer in ruhiges, doch seltsam fahles Licht.

Plötzlich schreckt Gilgulszar auf, ihm war als hätte er seinen Namen gehört. Nein, da war nichts. Nach einem Moment der Orientierung. Hunger. Ich hatte vor einiger Zeit Hunger. Wie spät es wohl ist? Beinahe sorgenvoll wendet sich sich Gilgulszar einer Nische auf der linken Seite des Raumes zu. Dort ist ein Schrein zu Ehren Zathuurs aufgestellt, einst mühevoll in den rauhen Fels geschlagen. In einer Opferschale vor den Füßen einer schwarzen Drachenstatue glimmt ein Kraut. Beißender Rauch verteilt sich schleichend in der kleinen Kammer. Gelobet sei Zathuur, unser Schöpfer. Es gleicht einem Wunder, daß ich nie vergesse, die Tagesopfer zu vollziehen. Ich esse kaum, es raubt mir den Schlaf, umfängt meinen Geist, doch das Tagesopfer vergesse nicht. Der Darkonpriester steht auf. Er hat die Größe seines Volkes, wirkt aber schmal in der schwarzen Robe. Lange, schlanke Klauen ragen aus den weiten, bestickten Ärmel heraus. Ein Menschenauge mag sich täuschen lassen, aber dies sind die Klauen eines Schreibers, eines Künstlers, keines Kriegers. An der der Nische berührt Gilgulszar ehrfürchtig das Haupt der Drachenstatue. Blut färbt seine Klaue. Blut, das er nachdenklich zerreibt. Sogar das Kleine Blutopfer der einfach geweihten Priester, das es jeden fünften Tag zu vollziehen gilt! Welch verborgen Hand mag mich leiten?

Gilgulszar wendet sich wieder dem Tisch zu und dabei bleibt sein Blick am Totenschädel eines Menschen hängen. Der Schädel ruht auf einem einzelnen Regal, das zwischen Nische und Tisch an der Wand befestigt ist. Nur grob gereinigt ist er noch frisch genug, um dem schweren Rauchkraut süßen Fäulnisgestank beizufügen. Niemand scheint den Ort zu kennen, nach dem mein Herz sich verzehrt. Keine der alten Schriften, nicht das Liber Aeterna Mortem oder der verschollene Codex und erst recht keiner der so genannten Gelehrten. Eine Klauenhand ergreift den Schädel vor ihm und dreht und wendet ihn, während er wieder in Gedanken versinkt. Wie er gespottet hat. Mein Schreiben war respektvoll - freundlicher als es hätte sein müssen, wenn man bedenkt, daß das Heer die Stadt vor Monden erobert hat. Was erhielt ich zum Dank? Blanken Hohn schrieb er mir zurück, ich sei der Welt entrückt, aus gelehrter Sicht reiner Unfug, ein hoffnungsloses Unterfangen. Gilgulszar legt den Schädel in das Regal zurück. Luzius von Levgenstein, ein schneller Tod war Gnade genug, erkläre dein frevlerisches Herz dem Herrn! Wieder über die Schriften am Tisch gebeugt, verliert sich Gilgulszars Zorn und schnell ergreift ihn wieder jener Zwang, der ihn stets sich und seine Umgebung vergessen läßt. Die letzten Wochen und Monde haben bereits erste Spuren hinterlassen. Müde und gleichzeitig von innerer Unruhe erfüllt, verzehrt es langsam aber stetig den Körper des Darkon.

Hoch in den Bergen kauert ein Kundschafter in den zerklüfteten Felshängen und blickt herab auf die Stadt Hierodan und die umliegenden Ebenen. Zum wiederholten Male hadert der Darkon mit seinem Schicksal und verflucht das unangenehme Wetter. Verdammte Wetterhexe, kannst Du nicht auf Deiner eigenen Brut herumhacken? Der Darkon brauchte nicht lange auf eine Antwort warten. Eilig drückt er sich enger an den rauhen Fels als prompt eine hinterhältige Windböe mit einem großzügigen Schwung Hagel auf ihn einhämmerte. Oben ist eine schöne, trockene Höhle. Ich könnte den Tag im Trockenen verbringen, mit einer Fleischkeule an einem prasselnden Feuer. Verflucht nochmal! Sith wird es wissen, darauf brauche ich gar nicht erst zu hoffen. Resignierend zieht der Darkon seinen Umhang enger um sich und blickt in die Ferne. Seufzend ergibt er sich dann seinem Schicksal, als nach kurzer Zeit der klamme Regen von Schuppe zu Schuppe seinen Rücken herunterrinnt.

In den unterirdischen Kavernen, die das Volk des Schwarzen Drachen sein eigen nennt, eilt Gilgulszar aus den heiligen Grotten höher an die Oberfläche. Es ist mittlerweile schon Abend geworden, ein Umstand, der dem Darkonpriester kaum bewußt ist. Er durchquert gerade die Bruthöhlen über den heiligen Kammern, da hellt ein leichtes Lächeln flüchtig seine konzentrierte Miene auf. Wie so oft, wenn er hier entlang kommt, streift ihn die Erinnerung an die Mutter Priesterin Kereszka. Diesmal jedoch geht der Strudel an heimlichen Gefühlen für die Darkonfrau genau so schnell wie er aufkam.

Nach kurzer Zeit erreicht Gilgulszar einen der gut verborgenen Ausgänge und reitet in Begleitung zweier Leibwachen den Hügelkamm entlang. Bis zu dem Plateau, auf dem die Kathedrale errichtet wird, ist es eine gute Stunde. Der Ritt durch die Hügelkette, die sich aus den Flußauen und Felder der weitreichenden Ebene aufschwingt, ist anstrengend. Im Osten überragen hohe Berglande die zerklüfteten Hügel und in der Abenddämmerung scheint es, als ob sich ein gewaltiger, dunkler Schatten gegen den grauen Himmel stemmt. Der Bau der Kathedrale ist weit fortgeschritten, doch der Zeitplan läßt den Arbeitern keine Gelegenheit zum Müßiggang. Vor beinahe einem Jahr im Mond des Todes hatten sie den Grundstein gelegt und im Mond des Todes des 13. Jahres standen sie vor ihrem Abschluß. Im untergehenden Licht der Sonne arbeiten unzählige Darkons an der Fertigstellung des prachtvollen Bauwerks. Schweigen begleitet die mühvolle Arbeit, alle sind bemüht, nicht Seiner Herrlichkeit aufzufallen, die sich seit Stunden in der Nähe aufhält. So wie es läuft, ist die Abendschicht dankbar, daß sie nicht im prasselnden Regen arbeiten muß. Malagrys, Erster Diener des Drachen, war gegen Mittag auf dem Plateau angekommen, um sich persönlich einiger Dinge anzunehmen. Als dann die schweren Gewitter einsetzten, entschlossen sich die Vorarbeiter gegen den Zorn des Priester und für das schlechte Wetter. Nur ein Unfall am Nachmittag schenkte der Tagesschicht eine einzelne Stunde Pause.

Beim letzten Licht des Tages kommt Gilgulszar auf dem Plateau an und reitet den gepflasterten Weg zum Vorplatz der Kathedrale entlang. Schon aus der Ferne sieht er das Ziel seines späten Ausflugs. Eine kleine Gruppe steht wie das Auge des Sturm inmitten der Hektik, niemand nähert sich. Seine Herrlichkeit, Malagrys. Ich hoffe er hat einen Moment für mich. Wer ist das dort bei Ihm? Malagrys, erster Priester des Schwarzen Drachens, standesgemäß in der tief schwarzen Robe der Priesterschaft, verziert durch metallisch-graue Zeichen seiner Macht, wird von vier schwer gerüsteten Soldaten begleitet. Die Abzeichen auf ihren Rüstungen und Schilden weisen sie als Schwarze Garde aus, den Soldaten der Priesterschaft. Ihm gegenüber steht eine großgewachsene, dunkelgeschuppte Gestalt. Der Darkonkrieger ist ein Hühne seines Volkes, groß und massig, mit jeder Bewegung spielen unter den harten, schwarz-schimmernden Schuppen gewaltige Muskeln. Der schwere, dunkle Mantel eines Kriegsherrn fällt von seinen breiten Schultern. Das kann nur Ssaras’khor sein. Seine Aura erdrückt selbst die Leibwachen Seiner Herrlichkeit. Wie angespannt sie sind, als bedrohe er ihr Leben. Gebannt betracht Gilgulszar die Szene vor ihm, seit Stunden hat einmal etwas anderes als die Suche seine volle Aufmerksamkeit. Ja, ich habe selten so klar gesehen. Sie fürchten ihn - einzig Seine Herrlichkeit scheint entspannt. Er ist vom alten Blute, ein Krieger vergangener Zeiten, einer der ersten Gewandelten unseres Volkes. Und wie seine Krieger aus den verlorenen Orden erinnert er sie an ein Leben, das sie nicht verstehen. Das Gespräch nähert sich dem Ende. Aber die Kirche, nein das Volk, braucht Ssaras’khor und seine Krieger. Oh, Zathuur, habe Gnade mit deinen Kindern.

Wenig später tritt Gilgulszar dem Ersten Diener gegenüber: “Eure Herrlichkeit, meinen tiefen Dank für diese Audienz. Meine Studien drehen sich im Kreis, ich bin mir nun mehr sicher, daß sich in unserem Reich nicht das Wissen findet, daß ich suche.” - “Gilgulszar, ich sehe, was Dein Herz begehrt, doch der Herr gebietet uns zu warten. Das Volk gibt seine Kraft, den Herr zu preisen. Krieg schwebt über dem Osten Nor Merrins.”. Gilgulszar beugt sein Haupt: “Wie Ihr befiehlt, so soll es geschehen. Doch ich bitte Euch, Eure Herrlichkeit, stellt meiner gepeinigten Seele in Aussicht, daß mein Leid nicht endlos ist.” Das kann nicht sein, er muß die Wichtigkeit meiner Studien doch sehen… Sorgfältig wägt Malagrys die nächsten Worte: “So sei es denn, Gilgulszar. Gedulde Dich bis zu Deiner zweiten Weihe …“ Nach meiner zweiten Weihe, gepriesen sei der Herr. ”… dann soll Dir das Volk auf Deiner Suche helfen.” Mit Dankesworten auf den Lippen verabschiedet sich Gilgulszar und kehrt in die Höhlen zurück. Gelobet sei Zathuur, unser Schöpfer. Bald, ja bald, werde ich Seine Stadt suchen.

Der Kundschafter in den Bergen späht in die Ferne unter ihm. Die Sonne war hinter den Bergen untergegangen und die Dunkelheit der kommenden Nacht bedeckt Hierodan und die weiten Ebenen. Mit einem Mal reckt sich der Darkon, um besser über den Felshang sehen zu können. Was ist das? Endlich. Das wollte Sith wissen. Schnell packt er seine spärliche Ausrüstung und eilt den schwierigen Berghang hinauf. Eine Stunde vielleicht bis zum Außenposten. Zur sechsten Stunde muß ich spätestens auf dem Pferd sitzen, doch morgen ist wenigstens wieder gutes Wetter.

Volk des Schwarzens Drachens (2145)