Koschtal

„Und was ist dann passiert? Wie hat der Junker diesen schrecklichen Fluch überwunden? Warum bist Du ihm weiter in dieses Abenteuer gefolgt?”, fragte die hübsche blonde Magd mit weit aufgerissenen Augen. Wir saßen eng aneinander geschmiegt am Feuer und starrten in die Flammen. Es war einer jener friedvollen Abende, wo ich das Gefühl hatte, das Leben in vollen Zügen genießen zu können – einer der Abende, die ich mir später so oft zurückwünschte.

Wahrscheinlich hätte ich gleich eine neue Geschichte erzählen können, und ich hätte nicht einmal viel Fantasie gebraucht, um sie auszuschmücken. Ich hätte erzählt von der Neugierde und der Abenteuerlust, und der Freundschaft auch über die Standesgrenzen hinweg, die durch Findariels Tod nur enger geworden war.

Ich erinnerte mich genau an jenen Morgen Anfang Rondra 1012 BF, als wir zusammen mit unserem Reisebegleiter Bruder Cordovan in Angbar aufbrachen, nachdem wir uns für die Reise mit Proviant und frischem Verbandszeug ausgerüstet hatten. Die Straße nach Süden war streng bewacht und in beide Richtungen stark befahren, denn sie führte uns schon gegen Mittag nach Stippwitz, wo das improvisierte Heerlager der Kaiserlichen in den wenigen Häusern des Ortes und hinter behelfsmäßigen Palisaden entstanden war. Erst danach wurde die Straße ruhiger, und abends ruhten wir uns in einem kleinen Gasthaus aus, wo wir erfuhren, dass Rohalssteg, die nächste Etappe unserer Reise, in zwei Tagen zu erreichen war.

In dem rauhen, bewaldeten Hügelland, durch das unsere Reise jetzt führte, erreichten wir erst in der Dämmerung das nächste Gasthaus, auf das uns der freundliche Wirt am Morgen schon hingewiesen hatte. Nur meiner Wachsamkeit ist es wohl zu verdanken, dass wir die Zeichen eines gewaltsamen Einbruchs noch rechtzeitig erkannten und uns vorsichtig näherten. In der zerstörten und geplünderten Gaststube lagerte eine junge Frau in einfacher Jägerkleidung, die dort ebenfalls ein Nachtlager machte. Da von ihr keine Gefahr auszugehen schien, sprach ich sie an und sie bot an, den Ort mit uns zu teilen. Sie stellte sich als Palina Gerdenwald vor und erzählte, dass sie im Dienste der Gräfin von Hardenfels von Angbar nach Albenhus reiste. Bei der Durchsuchung des Hauses entdeckten wir drei von den Orks erschlagene Leichen, die Bruder Cordovan bestattete, bevor wir ein schlichtes Abendmahl einnahmen.

Zum Glück ordnete Junker Wolfhart Nachtwachen an, so dass wir den kleinen Trupp Orks, der sich unserem Lager nachts näherte, rechtzeitig bemerkten und uns auf einen Kampf vorbereiten konnten. Es gelang uns, ohne eigene Verluste drei der dreisten Räuber zu erschlagen, auch wenn der Anführer, ein fürchterlicher Krieger, der sogar dem stattlichen Cordovan mutig entgegen trat, entkommen konnte.

Früh am nächsten Morgen brachen wir auf und begleiteten Palina bis nach Rohalssteg, einem kleinen Ort am Westufer des Angbarer Sees, wo sich unsere Wege trennten, da wir am nächsten Tag der Straße nach Koschtal folgen wollten, das wir nach zwei weiteren Tagen erreichten. Die Stadt fällt durch ihre eindrucksvolle, prächtige Mauern und die an den Berg gebaute Burg Bodrinstein (Sitz des Grafen) auf, und scheint auf den ersten Blick überaus wohlhabend zu sein. Unser Ziel, das Örtchen Feldhain, liegt auf der anderen Seite der Stadt außerhalb der Mauern. Auf dem Weg dorthin begegneten wir einem Bauern, dessen Felder verdorrt waren und der sein Schicksal beklagte. Bauer Trallo, wie er sich auf Nachfrage vorstellte, erzählte von Hexen, die seine Ernte vernichtet haben und hoffte auf die Gerechtigkeit des örtlichen Magistraten, der schon mehrfach Hexen gerichtet hatte und gegenwärtig auch eine gefangen hielt. Bruder Cordovan folgte einer Intuition und untersuchte die Bewässerungsanlage, die die umliegenden Felder speist. Dabei stellte er fest, dass in mindestens einen der Kanäle Salz geschüttet wurde – offensichtlich der Grund für die vernichtete Ernte.

Da es schon spät war, beschlossen wir, in Feldhain zu bleiben, um am nächsten Tag unsere Suche nach Heidruna, die uns hier treffen wollte, fortzusetzen. Für die Nacht bat Junker Wolfhart im Ordenshaus der Rosenschwestern, ein Frauenorden der Peraine, um Quartier, das ihm freundlich gewährt wurde. Im Rosengarten und auch in den kargen Zellen des Ordenshauses verbrachten wir alle zum ersten Mal seit langem eine sehr erholsame Nacht. Die Vorsteherin des Ordens, Utsinde Kormin, kannte Heidruna als eine kräuterkundige Frau und versprach, uns eine Nachricht in der Stadt zukommen zu lassen, wenn sie in den nächsten Tag in Feldhain auftauchte. Sie berichtete auch von der harten Hand des Magistraten bei der Verfolgung von nicht göttergefälligen Taten und Personen, so dass Heidruna uns wohl kaum in den Mauern Koschtals aufsuchen würde. Sie schien dieses Handeln der Stadtoberen nicht zu billigen, wollte aber auch auf Nachfrage nichts mehr sagen. Später erfuhren wir, dass der Magistrat im letzten Jahr auch eine halbelfische Laienschwester des Ordens verurteilt und getötet hatte.

Am nächsten Tag brachen wir in die Stadt auf, wo wir im Schillernden Krug unterkommen wollten. Auf unserem Weg begegneten wir vielen Anzeichen für die grausame Herrschaft des Magistraten und die Ungerechtigkeiten, die er im Namen Praios’ ausübte. So wurde uns auf dem sogenannten Zwergenmarkt ein elfischer Bogen für einen überaus günstigen Preis angeboten – später fanden wir heraus, dass er dem Besitz der gefangenen Elfe entstammte und vom Waffenhändler Hisbert im Tumult eines vermeintlichen Diebstahls der Elfe an seinem Stand geraubt worden war. Auf dem Schandplatz der Stadt war am Pranger die faulende Leiche einer Frau ausgestellt, die der Magistrat gerichtet hatte. (Als wir dieser später am Tag ansichtig wurden, stürmte Bruder Cordovan wutentbrannt zum Magistraten und verlangte eine Beerdigung, die dann auch veranlasst wurde.) Weiterhin wurde dort die bereits erwähnte Elfe in einem Käfig gefangen gehalten und zur Belustigung und Schadenfreude der Anwohner verhöhnt. Bei unserer Ankunft wurden wir Zeuge, wie die Wachen eine zwergische Travia-Geweihte grob vom Schandplatz jagten und ihr mit Hausarrest drohten, weil sie der Gefangenen Wasser und Nahrung bringen wollte. Als wir die Geweihte Mütterchen Libarescha nach Hause begleiteten, erzählte sie uns einiges über die Situation in der Stadt. Wir erfuhren, dass der Graf seine Burg seit langer Zeit nicht mehr verlassen hatte und der Magistrat Boltenbreger somit freie Hand hatte. Dieser war offensichtlich nach dem Streit mit einer Hexe von einem Fluch getroffen worden, der sein Gesicht mit Warzen bedeckte (was er mehr schlecht als recht mit Puder und Schminke zu überdecken suchte). Seitdem hatte sich sein Verhalten radikal geändert und er war zum fanatischen Verfolger aller „Hexen“ geworden. Wir erfuhren auch, dass der Praiostempel seit dem mysteriösen Tod des letzten Geweihten Arres Ehrwald vor einem Jahr leer stand und Zeichen der Verwahrlosung zeigte.

Als wir beim Magistraten vorstellig wurden und Cordovan von den versalzenen Feldern erzählte stieß dieser Hinweis auf taube Ohren – der Mann schien darauf versessen, seiner Gefangenen die Schuld daran zu geben, ohne einen weiteren Hinweis verfolgen zu wollen; sein Berater, der Magus Gilmon von Vengenfort, bestärkte ihn in dieser Haltung. Immerhin wurden wir zum Abendessen eingeladen, was wohl dem gewohnt souveränen Auftreten des Junkers Wolfhart geschuldet war. Dabei erfuhren wir, dass ein Brief des Magistrats an den Praiosorden, in dem er vom Tod Ehrwalds berichtete, angeblich unbeantwortet geblieben war.

Wir nutzten den restlichen Tag, um den beschwerlichen Weg bis hinauf zur Burg des Grafen zurückzulegen, einem düsteren, trostlosen Gemäuer, was nahezu unbewohnt schien. Dennoch wurden wir von Graf Helkor von Bodrin empfangen, einer schlaffen, müden Gestalt, die kaum über die Ereignisse in der Stadt und schon gar nicht über das politische Geschehen im Reich informiert war. Er wich Fragen über sich selbst stets aus, und stellte uns statt dessen seinen Gast vor, einen Mann namens Amando Laconda da Vanya, der ihn – wie er sagte – in Rechtsfragen beriet. Auf den Hexenprozess in der Stadt angesprochen, stellte der Graf eine Vollmacht aus, die uns befugte, dem Prozess beizuwohnen und uns die Unterstützung „aller Mitarbeiter der Stadt“ bei der Wahrheitsfindung zusicherte. Darüber hinaus wies er den Wirt des Schillernden Kruges an, uns als seine Gäste zu bewirten.

Am nächsten Tag legte Junker Wolfhart dem Magistraten unsere Vollmacht vor, die er sichtlich widerwillig akzeptiert und versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dieses mündete in einer langen Diskussion über die korrekte Abwicklung des Prozesses und die Rechte der Angeklagten zwischen von Vengenfort und da Vanya, der uns auf Geheiß des Grafen und aus eigenem Antrieb begleitete und dem Bruder Cordovan aus Gründen, die er für sich behalten wollte, blind vertraute. Junker Wolfhart trat als Fürsprecher für die ansonsten rechtlose Elfe ein und wir verlangten Einblick in alle Prozessakten und inspizierten auch die beschlagnahmten Besitztümer der Elfe. Dabei stellte sich heraus, dass von Vengenfort einige Dokumente sowie einen Dolch zur Untersuchung an sich genommen hatte und wohl gehofft hatte, wir würden ihn nicht so bald darauf ansprechen. Tatsächlich begann da Vanya jedoch sofort mit der Übersetzung einiger in Isdira (oder gar Asdharia?) verfassten Schritstücke, von denen der Magus eines sogar in seinem Studierzimmer vor uns zu verbergen trachtete. Später wurde auch die Gefangene selbst noch von Junker Wolfhart verhört, danach jedoch wieder in ihren Käfig gesperrt.

All das hätte ich erzählen können, aber an diesem Abend wollte ich mich lieber mit der Magd vergnügen als die anwesenden Bauern zu unterhalten. Also blinzelte ich ihr zu und sagte nur: „Ach, einer muss doch auf ihn aufpassen.“, und nahm sie in den Arm.

Aus den Erinnerungen des wandernden Geschichtenerzählers Emmeran Tannhaus