Die Geschichte der Gefangenen
“Auf der Reise durch die Länder der telora ertappe ich mich häufig dabei, an die schnee- und eiserfüllten Weiten der firndra zu denken. Tief in mir sehne ich mich nach der Reinheit und Leere meiner Heimat. Das Leben dort ist nhasalaza, ein steter Tanz mit dem Tod, und doch ungleich einfacher als die undurchsichtige Welt der großen Städte.”
- Liasanya Sternenruf
Die Bauern auf den Feldern vor Koschtal beäugten die Reisende staunend und leicht misstrauisch. Sie erkannten unschwer die elfischen Zügen und sehnige, katzengleiche Leichtigkeit ihres schmalen Körpers, doch mit den Elfen der Auen hatte dieses Geschöpf kaum etwas gemein. Die hellen widerspenstigen Haare umrahmten ein schönes, seidig blasses Gesicht, ihre Kleidung aus weißem Leder war besetzt mit exotischen Stickereien und prächtigen Pelzen aus fernen Landen.
Liasanya spürte die bohrenden Blicke in ihrem Rücken. Die Reaktionen, die sie auf ihrer Reise von den telora bekam, waren sehr unterschiedlich. Nach vielen Monden unter ihnen gelang es ihr immer besser, den Verdorbenen und Boshaften aus dem Weg zu gehen. In Koschtal würde sie nur kurz anhalten, um nach der weiteren Route zu fragen. Es sollte anders kommen.
Keinen Tag später lag die Firnelfe in einem der niedrigen, wuchtigen Käfige auf dem Schandplatz Koschtals. Sie rührte sich kaum und versuchte sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Die telora waren wie firlargra, der Winterwolf, und kannten keine Gnade gegenüber den Verwundeten oder Ängstlichen. Wegen ihrer Gegenwehr war Liasanya an Gelenken und um den Hals in schwere, eiserne Ketten gelegt. Das raue, scharfkantige Metall saß sehr eng. Mit jeder Bewegung ritzten die Fesseln ihre Haut und rieben das Fleisch darunter blutig.
Es gelang Liasanya auch in der Nacht nicht, sich auf die Melodie des bha’sama sala bian da’o zu konzentrieren, um ihre Schmerzen zu lindern. Im Kampf gegen den kräftigen, übel riechenden Mann konnte sie deutlich spüren wie ihre Rippen unter den wuchtigen Schlägen auf Schulter, Seite und Rücken brachen. Sie wollte weglaufen, nur weg, doch als er sie ansprang und niederdrückte, kämpfte sie mit der Wildheit des rao’ra, der großen Raubkatze ihrer nördlichen Heimat.
Die kommenden Tage wurden schnell zu einer Tortur für die Firnelfe. Genug Bürger Koschtals labten sich an der Tatsache, dass dort jemand Schwächeres zur Schau gestellt wurde und bewarfen die Gefangene mit üblen Beschimpfungen, faulem Essen und kleinen Steinen. Der Gestank war mit ihren feinen Sinnen unerträglich und Liasanya musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, dies zu ertragen. Schließlich war es jedoch nicht der üble Geruch oder ihre Wunden, sondern Durst und Hunger, die sie an den Rand ihrer Kräfte brachten.
Mit großer Angst beobachtete Liasanya wie die boroborinoi mit den Wildgänsen, die sich als Ubarescha vorgestellt hatte, davon gejagt wurde. Ubarescha war es, die ihr am ersten Tag Mut zu sprach und Wasser und ein wenig zu essen brachte. Dabei trat sie den großen Wachen unerschrocken entgegen und stritt mit sogar ihnen.
Am nächsten Tag kamen zwei telora, die Liasanya vorher noch nicht gesehen hatte. Der eine war groß und in schwarzes Eisen gerüstet mit dem Blick eines schweigenden Raubvogels. Der andere war gänzlich in taubra gehüllt, jener hochmütigen Magie des Geistes, die nicht den Einklang mit den Melodien der Welt sucht, sondern ihr ihren Willen aufzwingt. Der Durst hatte Liasanyas Stimme rauh werden lassen, ihre Lippen waren rissig und trotzdem versuchte sie ein vorsichtiges Lächeln. Die beiden Männer Wolfhart und Cordovan gaben ihr Wasser und stellten viele Fragen zu den Geschehnissen auf dem Markt, bei ihrer Verhaftung und in den Feldern vor der Stadt. Mitgefühl hatte sie in ihren Gesichtern vergeblich gesucht und selbst dann hätte sie sich nicht getraut zu zeigen, wie schwer sie verwundet war.
Als die beiden sie verliessen, war Liasanya unsicher, was dies zu bedeuten hatte. Sie hatte in Wolfharts Blick sein wahres Selbst gesehen, wie es ihr zuvor in einem Traum begegnet war. Der gleiche Traum, der ihr auch den schwarzen Raubvogel gezeigt und varra dioy, den Öffner der Tore angekündigt hat.