Baron Wolfhart und die Hexe

Der Baron Wolfhart von Falkenberg war ein Mann von außerordentlicher Güte. Seit dem Tode seiner Gemahlin Herdlinde lebte er sehr zurückgezogen und fand seine einzige Freude am Wohlthun. Besonders reich bedachte er die Geistlichkeit und schenkte dem Peraine-Tempel in Vallusa, als er den Geweihten Libentius predigen hörte, eine Altar-Tafel und einen Kelch, alles von Gold und Edelsteinen verfertigt, zwanzig Batzen Goldes an Werth. Aber seine Freigebigkeit beschränkte sich nicht auf die Geistlichkeit.

Einst war der Herzog Benno von Festum in Falkenberg zum Besuch bei dem Witwer seiner verstorbenen Schwester Herdlinde. Sie ritten, umgeben von einem stattlichen Gefolge, am frühen Morgen an der Ortschaft vorüber, um die Güter des Barons in Augenschein zu nehmen. Da nahten sich, im Vertrauen auf die Milde der hohen Herrn, einige Abgeordnete der dörflichen Gemeinschaft und klagten über den Mangel an Weideland für ihr Vieh. Der Baron hörte ihnen mit Theilnahme zu und versprach, ihrer Noth abzuhelfen. Er wollte ihnen - sagte er - an Wischen und Weiden geben, soviel ein Mensch in einer Stunde umgehen könne.

Da wurde der Herzog besorgt, dass der Baron bei seiner bekannten Herzensgüte zu weit gehen und zu viel von dem kostbaren Erbe verschenken möge, das ihm oder seinen Kindern zufiel nach dessen Tode. “Ihr solltet lieber die Frist auf einen ganzen Tag ausdehnen”, sagte er ärgerlich.

Der Baron aber überhörte den Vorwurf, der in seinen Wort lag und erwiderte sanft: “Der Herr hat mich reich gesegnet an irdischen Gütern; es mag Euer Wort gelten.”

Diese Zustimmung des Barons kam dem Herzog vollends unerwartet, und er sann darauf, wie die Sache rückgängig zu machen sei. Da kam ihm plötzlich ein listiger Gedanke, er verbarg seinen Ingrimm unter einer glatten Miene und nahte sich mit heuchlerisch freundlichen Worten seinem Schwager: “Da Ihr Euch”, sagte er, “in dieser Angelegenheit meinem Rathe so schnell gefügt habt, so überlaßt Ihr es mir auch wohl, die Sache sogleich ins Werk zu richten.”

Wolfhart willigte arglos in sein Begehren, und nun kam die Tücke des Herzogs zum Vorschein; denn er sprengte die Straße hinab bis zu einer uralten Frau, bei der sie so eben vorbeigeritten waren, und der der Baron ein reichliches Almosen gespendet hatte. Er hatte im Vorüberreiten recht wohl bemerkt, dass die Frau stark hinkte und sich schwer auf einen verdorrten Stecken stützte. Verwundert folgte ihm der ganze Zug.

“Soll ich also” - wandte er sich schadenfroh an den Baron - “dafür sorgen, dass Euer Befehl pünktlich vollstreckt werde, so will ich Euch auch den Bürger zeigen, der sogleich seinen Weg antreten möge.”

Da brachen die rechtschaffenen Dörfler aus in lautes Wehklagen, dass durch des Herzogs arge List die Freigebigkeit ihres Wohlthäters so schnöde vereitelt sei. Wolfhart aber stieg herunter von seinem Rosse, legte seine Hand wie segnend auf das Haupt der gebeugten Alten und betete leise. Die Bürger standen voller Verzweiflung daneben; denn sie kannten die Frau und wussten, dass sie ohne fremde Hülfe sich nur mühsam und schleppend vom Platz bewegen könne. Sie wohnte in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes und vielfach wurde gar gemunkelt, sie sei eine Hexe. An den Markttagen bot sie zuweilen einige getrocknete Kräuter und gekochte Marmelade aus Früchten feil. Dann brachten mitleidige Menschen sie des Morgens auf den Marktplatz und des Abends mussten sie sie wieder heimholen, da ihre Kraft für den weiten Weg nicht reichte.

Die Alte selbst war über die Berührung des hohen Herrn erstaunt, als er ihr winkte, aufzubrechen, und sah ihm lange prüfend in die Augen. “Versuch’s doch nur,” sagte der Baron, und die Alte antwortete, „Ihr seid ein guter und ehrbarer Mann, Herr, und so will ich das Meine dazu tun.“, und setzte sich in Bewegung. Laufen konnte sie nun freilich nicht, da sie einen Fuß verkrüppelt hinter sich her zog, doch über ihren Stecken gebeugt, machte sie sich auf den Weg, und ein Diener des Barons folgte ihr, um alle hundert Schritt auf ihrer Bahn einen Pfahl einzuschlagen.

Im Anfange waren die Bürger traurig, und die meisten gingen voller Mißmuth nach Hause; denn was sollten sie von einer Hexe erwarten. Die aber humpelte und kroch, immer gleichmäßig weiter, ohne Ruhe und Rast, und als die Bürger gegen Mittag wieder hinausgingen, wurden sie auf das Angenehmste überrascht; denn soweit das Auge reichte, erblickten sie die hellschimmernden Pfähle in einer langen, langen Reihe und im Hintergrunde in einem ungeheuren Bogen; so ging es fort und im Abendschein konnte man schon von der Stadt aus deutlich die Alte arbeiten sehen, wie sie näher und näher kam. Als die Sonne sank, langte sie bei der Ortschaft an, und es war eine Weide eingezäunt, viel umfangreicher, als die Bürger ursprünglich gehofft hatten und fast zu groß für ihren Bedarf.

Auf diese Wiesen, die jetzige Bürgerweide, treiben noch heutiges Tags die Bürger ihr Vieh gegen eine unbedeutende Einschreibegebühr.

Wolfhart lebte noch vierzig Jahre nach dem Tode seiner Frau, eine Stütze und Trost für die Armen und Nothleidenden. Er wurde nach seinem Tode im Tempel unter einem viereckigen blauen Stein begraben.

Was den habsüchtigen Herzog und seine Familie anlangt, so wurde ihre Erwartung, nach Wolfharts Tode seinen ganzen Nachlaß zu erben, bitter getäuscht. Denn seine Schätze an Silber, Gold und edlem Gestein hatte er an milde Stiftungen vermacht, und die Ländereien fielen an den Kaiser. Und selbst als nach Verlauf mehrer Jahre des Herzogs Sohn, Dethmar, mit den Ländereien belehnt wurde, sollte er sich des Genusses dieser Güter nicht lange erfreuen. Denn als der Kaiser nach Vallusa zog, wurde er von einer Mordbande angefallen und verdankte die Erhaltung seines Lebens nur der äußersten Anstrengung seiner tapferen Leute und einiger wackerer Bürger Falkenbergs. Als die Sache näher untersucht wurde, sagte Dethmars eigener Knecht Arend, es sei sein Herr gewesen, der den Hinterhalt gelegt habe, und als der Graf seine Unschuld durch einen Zweikampf beweisen wollte, verlor er sein Leben.

Aus:
Emmerans Fibel, Junker Wolfhart oder Die Dinge, wie sie sind
Verfasst in Neersand, Praios 1012 BF