Ein Schatten über der Gemeinschaft
Emmeran saß aufrecht auf seinem Strohlager und schaute grübelnd auf den dicken Verband um seine Wade. Er dachte an seine langen Reisen und wie sich die Ereignisse überschlagen hatten, kaum dass er in Neersand angekommen war und seine Freunde wieder getroffen hatte: Bruder Cordovan, Rashid, und Wolfhart. Er sah auf die Notizen in seiner Hand und die verschlissene Kladde, die neben ihm auf dem Lager lag. Noch hatte er Wolfhart nicht eröffnet, dass er seinen Namen benutzte, um die Sammlung von Erzählungen, die er im Laufe des Jahres aufgeschrieben hatte, zu verbinden. Junker Wolfhart und das Herz aus Gold – Junker Wolfhart und der Hexenfluch – Junker Wolfhart und der falsche Magistrat, so einige Titel der Geschichten, die Emmeran bisweilen las, um die Moral der Menschen zu stärken oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten.
Jetzt war Wolfhart sogar zum Baron ernannt, und schien trotzdem noch der Weggefährte von früher geblieben zu sein. Trotz der Ereignisse des letzten Jahres war es ihnen gelungen, sich wie geplant in Neersand zu treffen – ein ungeheures Glück schien die Geschicke der vier Weggefährten zu leiten, bedachte man die vielen Widrigkeiten und Gefahren, die diesem Treffen vorausgingen. Dennoch schien ein Schatten über der Gemeinschaft zu liegen, da Wolfhart und Cordovan sich uneins waren über ihre Pflichten dem Akademieleiter von Neersand gegenüber, der sie gebeten hatte, ein gestohlenes Buch wieder zu beschaffen, das angeblich von Schwarzer Magie handelte und von ihm aufbewahrt wurde. Das Buch war aus einem verschlossenen Schrank in der Akademie entwendet worden, obwohl niemand davon wissen konnte. Dass man diesem Diebstahl nachgehen sollte, war nicht strittig, aber die Frage was mit dem Buch zu geschehen habe, wenn man es wieder fände, könnte die beiden ernsthaft entzweien, wenn nicht alle einen kühlen Kopf behielten. Emmeran nahm sich vor, nach Möglichkeit zu verhindern, dass man im Streit mit dem Akademieleiter oder untereinander auseinander ging.
Emmeran lächelte, als er an den letzten Abend dachte. Das Wiedersehen war ein freudiges Ereignis gewesen, und der Abend hatte gut angefangen. Sie hatten beschlossen, der Spur des ebenfalls verschwundenen Eleven Laromir Olkweiher nachzugehen, da dies die einzige Spur zu sein schien. Durch Zufall erfuhren sie von seiner Freundin Franka Kneehans, der Tochter eines örtlichen Weinhändlers, die sich über sein seltsames Verhalten vor seinem Verschwinden geäußert haben sollte. Es bedurfte all der Autorität und Überzeugungskraft von Cordovan und Wolfhart, um ihren argwöhnischen Vater Ullrich dazu zu bringen, der vertraulichen Befragung seiner Tochter nicht beizuwohnen. Er sorgte sich wohl – nicht ganz zu Unrecht – um den guten Ruf seiner Familie und die Ehre seiner Tochter, die in seinem Beisein nichts von ihrer Beziehung zu Laromir erzählen mochte, dann jedoch zugab, dass sie mit Laromir befreundet war, diesen jedoch seit einigen Wochen nicht mehr gesehen hatte. Sie berichtete von Ausflügen in die örtliche Schenke ‚Zum Widderhorn’, einem Treffpunkt für auswärtige Wildnisreisende, Fell- und Viehhändler und Söldner. Dort hätten sie einen Norbarden namens Kergov kennen gelernt, ein Mann mit kurzen, dunklen Haaren und einem Schnauzbart, etwa 1,75 Schritt groß, der sich äußerst spendabel gezeigt hätte. Laromir hätte diesen Mann auch in dessen Wohnung, einem umgebauten Wasserturm im Norden der Stadt, aufgesucht, und sich sehr für dessen Studien interessiert. Gleichzeitig hätte er sich auch in seinem Wesen verändert und schließlich den Kontakt mit ihr ganz abgebrochen.
Während dieses Gesprächs mit Franka, waren Rashid und Emmeran längst in besagtem Widderhorn gewesen, und auch wenn sie dort keine neuen Informationen bekamen, war es ein lustiger Abend. Emmeran hatte sich schnell wohl gefühlt und den Kontakt zu den einfachen, aber aufrichtigen Menschen gesucht, die dort verkehrten, und darüber wohl nicht genug auf Rashid geachtet, der zu tief ins Glas geschaut hatte, und sicherlich all seine Besitztümer beim Würfelspiel verloren hätte, wenn nicht Cordovan rechtzeitig eingetroffen und ihn in sein Lager im Haus Walsachblick gebracht hätte.
Der Abend hätte dort enden sollen, dann wäre ihnen viel Unglück erspart geblieben, dachte Emmeran. Sie hatten beschlossen, auch ohne Rashids Hilfe noch im Haus von Laromirs Onkel Gerblöffler nachzusehen, wo der Junge zuletzt gesehen worden war, welches aber ebenfalls seit einiger Zeit unbewohnt war, da Onkel und Tante angeblich entfernt wohnende Verwandte besuchten. Sie waren durch ein Fenster eingestiegen und hatten dann das stockdunkle Haus durchsucht, als Emmeran plötzlich von einem lebendigen Leichnam angefallen worden war, der ihn in die Wade biss und mit Zähnen und Klauen vor sich hergetrieben hatte. Kaum hatte Cordovan den schwer verletzten Emmeran gerettet und die Kreatur vernichtet, war eine weitere Abscheulichkeit über Wolfhart hergefallen, der sich auf dem Weg ins obere Stockwerk des Hauses befand. Auch diesen Untoten konnte Cordovan schnell erlösen, und sie hatten festgestellt, dass es sich dabei um die blutverschmierten Leichen der Tante und des Onkels von Laromir handeln mussten. Sie waren trotz des Schreckens, den diese Erkenntnis auslöste, nicht zurückgewichen, und hatten Laromir selbst gefunden, eine blasse, erschöpfte Gestalt, die in einem Schaukelstuhl auf sie wartete und keinen Widerstand leistete. Der Raum war über und über mit Blutspuren verschandelt. Laromir selbst war ebenfalls blutverschmiert und schien zuerst verstört oder verwirrt zu sein. Cordovan nahm ihm ein langes Messer und ein kleines Beil ab, bevor Wolfhart mit der Befragung begann. Schnell wurde deutlich, dass sie mit Laromir nicht nur den Mörder seiner Verwandten gefasst hatten, sondern auch den ‚Schlachter von Neersand’, der in den letzten Wochen im Hafenviertel einige abscheuliche Morde verübt hatte. Laromir gab die Taten zu und erklärte, Blut müsse fließen, damit seine Macht wachse, und er freute sich, als er von den Attacken der lebenden Leichname hörte. Unter dem bohrenden Blick Wolfharts gestand er weiterhin, dass er Kergov in seinem Turm besucht habe, dass dieser ein Magier und ein Lehrmeister sei und sich noch in der Stadt befinde. Er gab an, nicht zum Töten gezwungen worden zu sein, erklärt aber, es sei der einzige Weg gewesen. Von dem gestohlenen Buch wusste er nichts.
Sie hatten den konfusen Eleven noch in der Nacht an die Stadtwache übergeben und sich dann im Haus Walsachblick an die Versorgung ihrer Wunden gemacht und sich schließlich zur Ruhe begeben.
Was für ein Wiedersehen. Vielleicht war das Ergreifen des Schlachters 20 Batzen Gold als Belohnung wert, aber nun mussten sie sich Sorgen darum machen, wie die Wunden aus dem Kampf mit den Untoten verheilen würden, und sahen sich auf der Suche nach dem entwendeten Buch vielleicht einem mächtigen Schwarzmagier gegenüber. Emmeran seufzte und zupfte an den Verbänden an seiner Schulter herum. Dann nahm er den gespitzten Kohlestift und begann zu schreiben … Baron Wolfhart und die Hexe
js says:
Der gute Emmeran weiß wirklich, was sich gehört. Der Besuch bei den Gerblöfflers ist in meiner Erinnerung weniger wacker gewesen, “Angst und Bang” hätte man die Geschichte auch überschreiben können. Aber so werden dann auch keine guten Geschichten draus und keine Helden geboren. Also: Weiter so!!