Erkundigungen in Ysilia

Der Wind zerrte an meiner Kleidung und wehte mir kalt ins Gesicht. Zu meiner Rechten sah ich in einiger Entfernung den dunklen Schatten des Ysli-Sees, unter mir die Baumwipfel. Es war herrlich, nach einigen Wochen wieder zu fliegen, die Freiheit zu spüren und die kühle Nachtluft einzuatmen. Es war auch gut, wenigstens für ein paar Stunden allein zu sein und diese wilde Flugreise nach Falkenhorst ungeniert genießen zu können. Die anderen hatten die hastig erfundene Geschichte von einer Mitreisegelegenheit sicherlich nicht geglaubt, aber zum Glück war ich diesmal um weitere Fragen herumgekommen. Die würden später wieder kommen, aber das war mir jetzt egal.

Gestern erst hatten wir uns unter dem Kommando von Oberst Delian von Wiedbrück auf den Weg nach Ysilia gemacht – dieser hatte auch Rashid als „Berater“ Wolfharts akzeptiert, auch wenn er offensichtlich an seinen Fähigkeiten zweifelte. Von Wiedbrück hatte entgegen unserer bisherigen Planung darauf bestanden, zunächst den Bericht über die Obduktion des ermordeten Boron-Novizen entgegen zu nehmen und in der Bannakademie Rücksprache zu halten, bevor er mit uns Richtung Tobimora aufbrechen wollte.

Die Reise selbst – vorbei an der Burg Sturmfels und durch den Ort Altdorf – war ereignislos, aber dennoch anstrengend gewesen. Von Wiedbrück hatte sich bei Wolfhart über das Reisetempo und die Disziplin seiner Gefolgsleute beklagt, Rashid hatte mehrfach die Richtigkeit der Entscheidung hinterfragt, erst noch nach Ysilia zu reisen, wo doch das Leben eines Geweihten auf dem Spiel stehen konnte. Einzig Bruder Cordovan war um Ausgleich bemüht und schien sich wohl Sorgen darüber zu machen, dass ich auf den befehlsgewohnten, fordernden Stil des Kommissars unbedacht reagieren könnte. Völlig zu Unrecht – dafür hatte ich viel zu viel Erfahrung mit solchen Leuten. Außerdem war ich froh über die Hilfe und die Informationen, die dieser Mann beisteuern konnte. Aber die Geschichte, die ich über ihn erzählen würde, war noch nicht geschrieben.

Abends im Gasthaus Altdorfs hatte von Wiedbrück nach Vergangenheit und Hintergrund unserer Reisegruppe gefragt, war aber nicht ernsthaft an unseren Abenteuern interessiert gewesen; er schien – ganz der Agent des garethischen Hofes - nur Informationen über uns und unsere Beziehungen untereinander zu sammeln. Schließlich hatte er uns jedoch im Hinterzimmer zusammen gerufen und berichtet, was er über den Schrecken der Tobimora erfahren hatte, indem er die Berichte von Augenzeugen des letzten Jahres auswertete. Die Untaten – Grabschändungen, Morde, Entführungen von Reisenden und Verstümmelungen von Leichen – beschränkten sich auf die Grafschaft Tobimora, wobei es erst in jüngerer Zeit zu Entführungen gekommen war. Von Wiedbrück führte weiter aus, dass die Untaten zunächst außerhalb des Zentrums der Grafschaft erfolgt waren und dass auch bei den späteren Fällen die Baronien Bergenhus, Weischenroth und Windgau weitgehend unbehelligt geblieben waren. Daraus folgerte er, dass der Täter – mit Ausnahme des Überfalls auf Falkenhorst – immer näher ans Zentrum seines Wirkens geriet. Berichten zu Folge handelte es sich bei dem Verbrecher um einen überdurchschnittlich großen, dunkelhäutigen Mann zwischen 30 und 40 Jahren mit schwarzem zotteligen Haupthaar und einem schwarzen Bart (vielleicht ein Norbarde?), der häufig auf einem ebenfalls schwarzen Pferd und mit einem Stab bewaffnet erschienen war. Auch weil einzelne Zeugen einen kopflosen Reiter oder ein dämonisches Feuerpferd gesehen haben wollten, warnte uns von Wiedbrück, dass wir es wahrscheinlich mit einem Magier zu tun hatten. Cordovan schlug daraufhin vor, in der Bannakademie nach Verstärkung zu fragen.

Am nächsten Tag hatten wir wie geplant Ysilia erreicht, eine Stadt, die noch immer von den Bauarbeiten zum Wiederaufbau nach der Zerstörung geprägt ist, und waren geradewegs zur Akademie gegangen. Dort wurden wir von Spektabilität Jalna Ingrimsdottir freundlich empfangen, und Wolfhart wurde sogleich zum Studium und Gedankenaustausch eingeladen. Nachdem von Wiedbrück sein Anliegen vorgetragen hatte, wurden wir an Magister Sumudan Groterian verwiesen, einen gut gelaunten älteren Mann, seines Zeichens Lehrmeister für Anatomie und Heilkunde. Sein Bericht über den Leichnam des Novizen war langatmig, zeugte aber von großer Genauigkeit und Gelehrsamkeit. Er führte aus, dass dem Opfer seiner Meinung nach die Gliedmaßen bei lebendigem Leibe abgehackt worden waren, und dass zudem die Zunge durch einen geschickten Schnitt entfernt worden war. Ein möglicher Grund für dieses Vorgehen war seiner Ansicht nach, dass diese Körperteile als Ritualgegenstände bei einer schwarzmagischen Anrufung dienen konnten, und er vermutete, dass solcherlei Beschwörungen in einem Buch namens „Arcanum“ beschrieben sein könnten, was natürlich das rege Interesse Wolfharts weckte. Nachdem unsere Untersuchung hier abgeschlossen war, kümmerte sich Cordovan höchstpersönlich darum, dass der Leichnam endlich bestattet wurde.

Rashid folgte einer Intuition und fragte sich auf der Suche nach weiteren Informationen über die Baronien der Tobimora zum herzöglichen Archiv der Stadt durch, wo er mit dem Archivar Lothar Weselsbrück einen überaus hilfreichen Mann kennen lernte. Dieser war beeindruckt von Rashids Beobachtungsgabe, als er ihn auf die Spuren eines Einbruches hinwies und berichtete bereitwillig, dass vor einigen Wochen unbekannte Einbrecher eine Anzahl Geschichtsbücher beschädigt und in einem sogar Seiten entfernt hatten. Diese, so der Archivar, dokumentierten eine Schlacht im Jahre 932 BF in der Tobimora, bei der ein aufständisches Bauernheer vom Grafen und seinen Rittern besiegt worden war. Danach hatten sich die Bauern auf einer Insel im Moor zum letzten Gefecht gesammelt und waren vom grausamen Lehnsherrn in die Sümpfe im Südwesten der Tobimora – gleichzeitig die Grenze zu Falkenberg – getrieben worden, wo ihre Gebeine noch heute liegen sollen. Der Archivar erzählte weiter von einem Stegweg durchs Moor, der heute aber nicht mehr genutzt würde.

All diese Informationen spornten uns zu großer Eile an, da wir ahnten, dass es Schlimmes zu verhindern galt. Also beschlossen wir, die Rückreise möglichst schnell zu gestalten und vielleicht auf eine Schiffspassage auszuweichen. Für mich der Vorwand, auf den ich jetzt schon seit Wochen wartete. Mir war egal, ob es wieder Beschwerden über Disziplinlosigkeit oder misstrauische Nachfragen gab, ich wollte den Wind spüren und den Rausch der Geschwindigkeit erleben, wollte für eine Nacht ich selbst sein, frei und ungebunden.

Wenn ich außerhalb Falkenhorsts landete, würde ich wieder in die Rolle des Geschichtenerzählers schlüpfen, und mich nützlich machen, indem ich mit Hilfe des Vogts alles für die Abreise vorbereitete und Erkundigungen über den Weg einzog, aber jetzt würde ich noch eine Runde über diesen Baumwipfeln drehen, und einmal im Sturzflug auf den See hinab …. Yiiiiiiiihaaaaa!