Der weiße Falke
“In den Ländern der telora gibt es jene, die die Sprache der Natur sprechen und ihr Lied erahnen, mögen sie es wie die Hexen Weidens und des Koschs mit ihrer Gottmutter Satuaria oder wie die Druiden Tobriens mit der Erdriesin Sumu erklären. Wenn die Pforten sich öffnen, werden sie sich dann aus dem Netz von Verfolgung und Heimlichkeit befreien können oder stumm mit ihrer Welt vergehen?”
- Liasanya Sternenruf
Entlang des Horizonts über der Küste Tobriens sammelten sich dunkle, tief hängende Sturmwolken. Die brodelnden Wolkengebirge brandeten mit einer täuschenden Lässigkeit vom Perlenmeer her landeinwärts und peitschten mit ihren scharfen Winden die See entlang der Küste auf. Im Landesinneren beugten sich die großen Bäume der tobrischen Wälder vor dem nahenden Unwetter, während Mensch und Tier Schutz vor dem Zorn der Sturmgöttin suchten. Der heftige, teils in orkanartigen Böen wehende Südostwind trieb die gewaltige Sturmwand rasch in das Landesinnere auf den Yslisee zu und ließ dabei die Temperatur merklich fallen. Während die Sichelberge im Westen Tobriens in der untergehenden Sonne in ein warmes, abendliches Farbenmeer getaucht wurden, schien das Land von Osten her von einer grauen, bedrohlichen Urgewalt verschlungen zu werden.
Den bornländischen Lüften in die tobrische Wildnis folgend, raste zur gleichen Zeit ein Raubvogel auf ein Ziel nahe des Yslisees zu. Das weiße Federkleid glänzte im Licht der untergehenden Sonne, lediglich die Flügelspitzen waren in dunkelbraune, fast schwarze Farbe getaucht. Die graublaue, scharfe Schnabelspitze hob sich deutlich von den schwarzbraunen, golden glimmenden Augen ab, mit denen der Falke in die weite Ferne des Himmels über Tobrien blickte.
Die Sturmwolken kündeten den Menschen von regenreichen Gewittern, die ihre verheerenden Spuren in Feld und Flur hinterlassen würden. Ihre Gebete in dieser Stunde richten sich an Travia, auf dass sie ihnen Schutz in ihrem Heim schenke, oder Rondra, die sie in ihrem Zorn schonen möge. Denen, die die Zeichen lesen oder sogar das zweite Gesicht besitzen, kündeten die Sturmwolken von einer sich sammelnden Macht und dem Chaos, das ihr Aufstieg und Fall hinterlassen werden. Einmal entfesselt, wird sie das Land gierig verschlingen und die See in Blut tauchen. Dem weißen Falken schließlich kündeten die Sturmwolken von der lauernden Gefahr für sich selbst und seinem Ziel. Es schien als strecke etwas aus der unendlichen jenseitigen Leere bedrohlich seine Klauen nach dem Tier aus, um es an seiner Reise zu hindern.
Der Wind unter den kräftigen Schwungfedern trug den weißen Falken schnell seinem Ziel entgegen. Die Gegend am Boden wechselte rasch mit den sicher hundert oder mehr rohalschen Meilen jede Stunde. Häuser und Dörfer tauchten auf und verschwanden wieder im waldigen Hügelland Tobriens. Unter grellen Blitzen und grollendem Donner griffen die Ausläufer der Sturmwand in einem entschlossenen Versuch nach dem verbissen kämpfenden Falken, der so vor der urgewaltigen Gewitterfront vorher hetzte.
Liasanyas Geist kehrte mühsam aus der animalischen Seele des Falken zurück und besann sich auf ihr elfisches Sein. Lange Reisen und die damit verbundene starke Anstrengung verführten dazu, sich gänzlich dem tierischen Trieb hinzugeben und so mit dem Seelentier zu verschmelzen. Die Firnelfe war sichtlich erschöpft von dem langen Flug und doch hatte sie eine innere Freude über ihren kleinen Sieg erfasst, die ihr Kraft und Tatendrang gab. Seit sie sich von ihren menschlichen Gefährten in der Schlacht um Gareth getrennt hatte, folgte sie einem Pfad, von dem sie selbst nur selten wußte, wohin er sie tragen würde. Sie war in den eisigen Norden zurückgekehrt, um in der innigen Umarmung ihrer feysalanur von dem Grauen loszulassen, dass sie in der Welt der telora erlebt hatte. Es war nicht lang, dass das Lied in ihrem Herzen sie wieder antrieb, in die Ferne hinaus zu ziehen.
Ihre Suche führte sie in den sagenumwobenen Silvanden Fae’den Karen, einem Zauberwald im Herzen des nördlichen Bornlandes, der gleichsam auf Dere wie in der Feenwelt existiert. Liasanya erging es nicht besser als den telora, die sich in den dichten Forst wagten. Sie irrte lange vom mandra des Feenwaldes geblendet und genarrt umher bis sie schließlich aufgab auf ihre Sinne zu hören, sondern sich dem Lied des Waldes hingab. Im Inneren des Silvanden Fae’den Karen aber fand Liasanya die shi, deren Rat sie suchte. Mahnend erzählte ihr die Lichtelfe vom Fall der fenvar und ihrer legendären Städte. In ihren Ausführungen auf Liasanyas Fragen nach dem hochelfischen Zaubersänger Oisin lag ein Hauch von Schwermut, wie eine Erinnerung an längst vergangene Gefühle. Liasanya verließ den magischen Forst wenig später mit einem neuen Hinweis und dem leidvollen Gedanken, dass am Ende ihre Reise selbst das Ziel sein würde. Die shi war Zeugin, nein ein Teil, des Aufstiegs und Falls der fenvar vor mehr als 5000 Jahren gewesen und trug in sich so viel mehr Wissen als die Ältesten der firnya fey’e. Umso mehr konnte sich Liasanya eines neidvollen Ärgers nicht erwehren, dass sie mit Bruchstücken, Andeutungen und Verlockungen auf ihre Reise geschickt wurde. Ein Gefühl, das ihr nicht behagte und das ihr vor Augen führte, dass sie noch am Anfang ihrer Suche stand. Die kommenden Jahre, für elfische Verhältnisse ohnehin nur eine kurze Spanne, würden die Gefahr offenbaren, die in ihren Träumen lange Schatten vorauswarf.
Der Blick der Firnelfe streifte das vom Wind aufgewühlte Wasser des Yslisees, der mit seinen 50 Meilen Länge und bis zu 30 Meilen in der Breite zu den größten Binnenseen Aventuriens zählte. Das klare, in Efferdfarben schillernde Wasser gab keinen Hinweis auf die wahre Tiefe des Sees, die bisher kein Mensch auszuloten vermochte. Die Bewohner Tobriens kennen so manche Sage oder alte Erzählungen um die Mysterien des “Elfenspiegels”, wie sie den Yslisee auch nennen. Liasanyas scharfen Elfenaugen konnten von der Insel in der Mitte des Sees bis hinüber zu den Ansiedlungen der telora schauen und auch im Süden die seichten Schilfufer des Sees erahnen. Sie blickte sich nun ebenfalls auf dem Eiland um und erkannte sofort, dass dieses der Ort sein musste. Auf den ersten Blick glich wenig dem Taubria, dem Tobrien zur Zeit der alten Sagen. Der spiegelnde Yslisee war nicht länger vom Weltenbrand geschwärzt. Der gewaltige Taubrilstrom mit seinen vier oft besungenen Brücken war vom Riesen nurdagra mit der Kraft seiner Erdmutter zerrissen und längst in den vielen Flüssen und Strömen Tobriens verschwunden. Doch das alte Lied Isiriels, der blau-silbernen Stadt der fenvar, erklang deutlich und erfüllte Liasanyas Herz mit schmerzlichen Erinnerungen. Für einen kurzen Moment fühlte sie wie die Musik dieses Ortes gleichsam hier und in der Ferne ihren Ursprung hatte und auf eine Weise Vergangenheit und Zukunft miteinander verband. Der Firnelfe war nicht klar, dass ihr mandra im Einklang mit einer Kraftlinie schwang und so eine Macht fand, die sie nicht zu bändigen vermochte. Erschöpft sackte Liasanya zu Boden und schüttelte verbissen ihren hübschen Kopf, als ob sie damit die nahende Bewusstlosigkeit abstreifen könnte.
Die Druiden von Sumus Kate fanden im Morgengrauen des dritten Erdtags des Praios 1013 BF die zierliche Firnelfe am nebelgetränkten Ufer ihrer heiligen Insel. Sie wunderten sich wie sie hierher gekommen war, unbemerkt und ohne jede Spur eines Schiffes. Die Dienerinnen und Diener Sumus mutmaßten über die seltsame Gewitterfront am Vorabend, die so abrupt aufgezogen war und ebenso plötzlich ihre Kraft verloren hatte. Einzig Fyrnenbart der Alte, der als Ältester der Druiden Tobriens bei dem morgendlichen Fund sofort zu Rate gezogen wurde, beugte sein schlohweißes Haupt über die schlafende, verletzlich wirkende Elfe und erkannte in ihr den weißen Falken aus seinem Traum.