Tödliche Träume

Es ist der 02. Tsa des Jahres 1015 BF als wir endlich in Trallop ankommen. Die Reise im Troß des Herzogs Kunibert Frankwart von Ehrenstein war anstrengend gewesen, denn der lange Zug von Edelleuten und Rittern mit ihrem Gefolge, Soldaten, Fuhrwerken und Knechten hatte sich wie eine Wurm durch die Landschaft gewälzt und war nur langsam vorangekommen. Allein das Auf- und Abbauen des nächtlichen Lagers hatte jeden Tag ewig gedauert, und an diesem letzten Reisetag waren wir in die Dunkelheit marschiert, um die Stadt noch zu erreichen. Wolfhart schien das alles nicht zu stören, er freute sich ehrlich über die Einladung zur anstehenden Hochzeit des herzöglichen Sohnes Dietrad von Ehrenstein mit Walpurga von Löwenhaupt, der Tochter des Herzogs von Weiden. Cordovan nahm jegliches Ungemach gewohnt stoisch hin, so dass es an mir war, meine Ungeduld bisweilen zu zügeln, aber nach der langen Zeit des einsamen Wanderns war diese riesige Reisegruppe eine echte Prüfung für mich.

Für all das werde ich jedoch bei unserer Ankunft entschädigt, denn – man höre und staune – die Wachen am Tor dirigieren uns direkt zur Bärenfeste, dem Herzen der an den Neunaugensee gebauten Stadt, wo Wolfhart, Cordovan und ich ohne jeden Standesdünkel ein gemeinsames Zimmer zugewiesen bekommen und uns in der Küche stärken dürfen. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Im Gegenteil hatte ich mir schon Sorgen wegen unserer späten Ankunft gemacht, denn ich wusste ja, dass die Stadt wegen der Hochzeit und auch wegen der bevorstehenden Warenschau im Phex hoffnungslos überfüllt sein würde, und Schlafplätze nur noch zu unerhörten Wucherpreisen zu bekommen waren. Dieser Sorge entledigt, wärme ich mir die Hände am Kamin, der die winterliche Kälte aus unserem Zimmer vertreibt und etwas Licht spendet, und schlage vor, noch eine der Schänken der Stadt aufzusuchen, wobei ich wohlweislich die Orte verschweige, die mir aus verschiedensten Gründen ungeeignet erschienen. Wir verbringen den Rest des Abends in der Schenke ‚Norderwacht’, wo die Wirtin Laia selbst zur Lautenmusik alte Weisen singt, bevor wir uns zu Bett begeben.

Am nächsten Morgen erwacht die Burg langsam zum Leben. Nach dem Frühstück kehren wir noch einmal in unser Zimmer zurück, um über unsere Pläne für den Tag zu sprechen. Auf Cordovans Nachfrage berichte ich von einer meiner Fibeln, die vielleicht mit der Gauklerfamilie der da Merinals ihren Weg nach Trallop findet, denn mein letztes Exemplar hatte ich Coron, dem ältesten Sohn und möglichen Nachfolger des “Gauklerkönigs”, dem ich freundschaftlich verbunden bin, geschenkt. Ob Cordovan sich wohl ehrlich für meine Geschichten interessiert, oder ob er nur wieder misstrauisch ist, weil er erfahren hat, dass auch er in den Junker Wolfhart – Geschichten eine Rolle spielt? Sei es drum.

Bevor wir noch etwas entscheiden können, klopft es an der Tür und ein Junge fragt nach mir. Das überrascht mich, denn ich hatte nicht erwartet, dass jemand hier von meiner Ankunft Notiz nehmen würde. Er überbringt eine Nachricht von Gwynna, der Beraterin des Herzogs, die uns bittet, sie aufzusuchen. Natürlich machen wir uns gleich auf den Weg in den Feuerturm und werden dort von Gwynna empfangen, einer attraktiven, alterslosen Frau mit feuerroten Locken und wissenden grünen Augen. Ihr locker fallender Umhang verbirgt ihr Vertrautentier, eine schwarze Schlange, nur unzureichend, so dass Cordovan sie sofort auf die Gerüchte um ihre Person anspricht. Sie zögert nicht lange, sondern gibt unumwunden zu, dass sie eine Hexe ist. Ich bin sowohl von ihrer Selbstsicherheit als auch von Cordovans Reaktion beeindruckt: Er scheint diesbezüglich keine Vorurteile zu haben, dabei hatte ich einmal mehr befürchtet, dass er in dieser Tatsache einen Verstoß gegen die zwölfgöttliche Ordnung sieht.

Nachdem dies geklärt ist, wendet sich Gwynna mit einer Bitte an uns: Wir sollen ihrem Freund Gernward beistehen, dem Mann einer alten Freundin von ihr. Er habe sie erst kürzlich besucht und dabei über Alpträume geklagt, die sich wiederholen, aber gleichzeitig intensiver werden. Gestern dann sei er von Krämpfen geschüttelt zusammengebrochen und seitdem nicht wieder aufgewacht. Sie vermutet eine machtvolle Präsenz oder gar eine Besessenheit als Ursache und will die Stadt verlassen, um Rat einzuholen. Derweil bittet sie uns, über Gernward zu wachen, den sie bei Faber Rotenfurt in der Sattlergasse untergebracht hat, einem Mann, dem sie vertraut. Sie fügt hinzu, dass ich ihr als der geeignete Mann für diese Aufgabe erschienen war, das sie über Luzelin von mir gehört hatte. Endlich mal jemand, der meine Talente würdigt, auch wenn ich von Traummagie nicht mal ein bisschen verstehe, aber das braucht ja keiner zu erfahren.

Als wir den Turm verlassen wartet ein Soldat auf uns, den wir als Kelling von Guldenberg, den Oberst der Herzogenwache, erkennen. Er scheint den Grund unseres Besuches bei Gwynna erraten zu haben und warnt uns vor Gernward, der – wie er sagt – seit einem Streit mit Hochwürden von Greifenberg einen Groll gegen die örtliche Priesterschaft hegt. Auf Nachfrage berichtet er über Gerüchte über einen Attentäter und auch wenn er Gernward nicht direkt verdächtigt, so will er doch sicher gehen, dass es keine unerwarteten Störungen gibt.

Wir finden Faber Rotenfurt in seiner Werkstatt in der Sattlergasse, wo er seiner Arbeit nachgeht. Er scheint zuerst ein wenig eingeschüchtert von unserem Auftreten, wirkt jedoch überaus freundlich und hilfsbereit als wir erzählen, warum wir gekommen sind. Er ist der Besitzer des Hauses, in dem sich die Werkstatt befindet, und er berichtet uns, dass er des Öfteren Gäste Gwynnas beherbergt und dafür die zwei Zimmer im ersten Stock reserviert hat. Er selbst wohnt im obersten Stockwerk des Hauses.

Auf unsere Nachfrage hin führt Faber uns schnell an das Lager, auf dem Gernward noch immer bewusstlos liegt; sein Schlaf wirkt fiebrig und unruhig und er stöhnt wie unter Schmerzen. Es gelingt Cordovan schnell, ihm durch ein Gebet an Boron etwas Frieden zu schenken, aber die Träume dauern trotzdem an und der Zustand des Mannes verändert sich nur wenig. Wolfhart vertieft sich sogleich in mehrere Zaubersprüche, von denen er sich Erkenntnisse über Gernward seltsame Krankheit erhofft. Später berichtet er mit einiger Bestürzung, dass er durch seine Analyse eine wahrhaft mächtige Magie erspüren konnte, die von dämonischen Einflüssen geprägt ist, aber auch Merkmale von Limbus und Zeitenmagie beeinhaltet. Er scheint gerade Letzteres für eine Bedrohung zu halten, erspart uns aber die theoretischen Erläuterungen.

Da Faber uns informiert hat, dass die Träume nachts noch schlimmer sind, wollen wir auf jeden Fall am Lager Gernwards wachen und sorgen dafür, dass er auch über Tag nicht alleine bleibt. Cordovan nutzt die Zeit zudem für einen Besuch im örtlichen Boron-Tempel, dem Tempel des Todes, wo er den Vorsteher Bruder Josold nach Liturgien fragt, die uns Einblicke in die Träume des Kranken geben könnten. Bruder Josold ist mit solchen Gaben ebenfalls nicht gesegnet, bietet aber an, sich des Abends mit uns zu treffen und schlägt auch vor, den Kranken in den Tempel zu verlegen.

Ich selbst mache mich auf den Weg ins Lager der Gaukler, das anlässlich der Hochzeit und wohl auch in Vorbereitung der Warenschau vor der Stadt langsam entsteht. Wie erhofft treffe ich dort die Familie der da Merinals, deren Oberhaupt sogar die Zeit findet, mich persönlich zu begrüßen. Welch eine Ehre! Ich plaudere mit meinem alten Bekannten Colon und kann es mir auch nicht verkneifen, ihn auf die Gerüchte über einen Attentäter anzusprechen. Er glaubt jedoch nicht, dass jemand einen Anlass haben könnte, die Hochzeit zu stören und berichtet mir lediglich von einen enttäuschten Ritter, der ehemals ein Auge auf Walpurga geworfen hatte. Nun ja, vielleicht wird daraus mal eine Geschichte … Was mich allerdings aufhorchen lässt, ist seine eher beiläufige Erwähnung eines Mitreisenden, der die da Merinals bis vor die Stadt begleitet hat und nach der Ankunft direkt weiter gezogen ist. Meinen Nachfragen weicht er aus, so dass ich bei meiner anschließenden Runde im Lager versuche, eine möglichst genaue Beschreibung des Mannes zu erfragen. Als ich Cordovan und Wolfhart später davon berichte, stellt sich heraus, dass Wolfhart eben diesen Mann am Eingang zur Burg gesehen hat. Er habe dort, so Wolfhart, versucht, Einlass zu erlangen, sei aber von den Wachen abgewiesen worden und habe dann einen Brief übergeben. Wolfhart fand die Gestalt immerhin so verdächtig, dass er ihn danach bis zur ‚Norderwacht’ verfolgte. Der Zusammenhang mit Gerüchten über einen Attentäter entfacht seine Neugier so stark, dass er sich erneut auf die Suche nach dem Fremden macht. Bei der Torwache erhält er jedoch keine weitere Auskunft, und bei der Wirtin Laia erfährt er lediglich, dass der Mann da gegessen und sich als Händler für Duftwässerchen ausgegeben habe. Später am Abend fragt Wolfhart auch noch im “Schwarzen Stier” nach dem Unbekannten und findet heraus, dass er sich auch dort aufgehalten hat. Zufällig hört er mit, wie sich einige Gäste über einen „bunten Vogel, gekleidet wie eine Frau“ unterhalten, der beim Kohlebrander vorstellig war – auch diese Beschreibung könnte eine Spur auf unseren Mann sein, aber da die Nacht hereinbricht, müssen wir uns zunächst unserer vordringlichen Aufgabe, nämlich der Sorge um Gernward widmen.

Ein Schlafgebet, dass Cordovan und Bruder Josold gemeinsam sprechen, beruhigt den Kranken sichtlich, erlöst ihn aber nicht von seinen magischen Träumen. Während ich an Gernwards Lager wache, stelle ich schnell fest, dass sein Schlaf wieder unruhiger wird, er wirft sich hin und her, und schreit und stöhnt in seinen Träumen. Zu meinem Erschrecken scheint sich dieses Unheil auf die im Nebenraum Schlafenden zu übertragen, und als ich Cordovan wecke, ist dieser sichtlich verstört. Er berichtet von einem Traum, in dem eine Eidechse aus einem Ei schlüpft, nur um sich dann in eine schwarze Schlange zu verwandeln, die einen daneben sitzenden Raben tötet.

Während Cordovan noch das Erlebte verarbeitet, wecke ich Wolfhart. Zu unserem großen Schrecken stellen wir schnell fest, dass beide das Gleiche geträumt haben – das kann kein Zufall sein. Wolfhart überprüft sofort, ob Magie am Werk war und stellt Reste eines Zaubers fest, die auf beiden liegen.

Daraufhin beschließen wir, den Kranken, der sich noch immer wie unter Schmerzen windet, in den Borontempel zu bringen, denn es wird deutlich, dass wir hier am Ende unserer Weisheit angelangt sind. Faber stellt uns einen Karren zur Verfügung, und wir geleiten Gernward in den Tempel des Todes, wo wir zusammen mit Bruder Josold über den Ursprung und die mögliche Bedeutung dieser Träume beraten, bevor wir uns irgendwann erschöpft selbst wieder zur Ruhe begeben. Auch wenn der Rest der Nacht für uns traumlos bleibt, schenkt uns der Schlaf dieses Mal auch keine Erholung. Hoffen wir, dass wir eine Lösung finden, denn diese düsteren Visionen greifen alle Beteiligten sichtlich an. Was die nächsten Tage wohl bringen werden ….?

Aus den Gedanken von Emmeran Tannhaus,
aufgeschrieben auf der Bärenfeste, Trallop,
vom 02.-04. Tsa 1015 BF.