Ein Tag voller Kopfschütteln

Im Ingrimm – Der Weg durch Weiden

Wir machen uns in den nächsten Tagen auf den Weg nach Baliho. Ich mache meine Freunde darauf aufmerksam, dass unsere Kasse nicht mehr so viele Dukaten enthält, wie gewünscht, schließlich haben wir seit langer Zeit keine Einnahmen mehr gehabt. Emmeran und ich versuchen dadurch, dass wir wiederholt unsere Dienste anbieten, die Kosten für die Übernachtungen auf dem Weg zu verringern, was ihm aber deutlich besser gelingt als mir – in Gasthöfen sind nun einmal andere Talente gefragt als die meinigen. Dafür punkte ich dann mit meinem Auftreten bei den Damen mehr, als Emmeran es ob seines doch sehr eigenen Charmes tut.

In Weiden ist verhältnismäßig viel Verkehr auf den Wegen, wir treffen auf große Karawanen und riesige Viehherden. Je näher wir Baliho kommen, desto stärker befällt mich ein ungutes Gefühl. Ich frage Cordovan und Emmeran, ob es ihnen ebenso geht. Emmeran bestätigt, dass auch er zunehmend bedrückt ist. Er begründet es mit den warmen Tagen, die er lieber draußen in der Natur verbringen möchte als im Rahmen eines vielleicht längeren Aufenthalts in der Stadt.

20. Ingrimm - Altnorden

Am Zwanzigsten des Monats erreichen wir einen Tag vor der Ankunft in Baliho das kleine Städtchen Altnorden, das den meisten Bewohnern Aventuriens – wenn überhaupt – durch den Altnordener Forst bekannt ist.

In Altnorden und Umgebung sind viele Praioswappen zu sehen. Die Diener des Greifen sind in den letzten Wochen in großer Zahl in Weiden unterwegs, wie uns gleich beim Betreten der „Dicken Stute“, dem ersten und vielleicht sogar einzigen Hause am Platz berichtet wird. Spekulationen dazu gibt es viele. Dass es mit dem einberufenen Treffen in Anderath zu tun hat, ist uns natürlich klar, jedoch versuchen wir weiteres herauszufinden. Gerüchte gibt es einige: Einen Orküberfall auf den Praios-Tempel in Anderath soll es gegeben haben, auch werden wir an anderer Stelle auf ein Treffen zur Überwindung der Kirchenspaltung hingewiesen, das Anlass des Treffens sein soll. Gar von einer Jagd auf eine große Gruppe von Raubrittern wird berichtet. Viele weitere Gerüchte verlassen meine Ohren wegen offensichtlichen Unsinns sofort wieder. Nicht unerwähnt bleiben soll hingegen die seriös klingende Empfehlung, in Baliho den „Südstern“ aufzusuchen. Es muss sich der Erzählung nach um genau die Art von Kneipe handeln, in der zumindest Emmeran und ich einen launigen Abend verbringen können.

Cordovan wendet sich in der „Stute“ an einen der anwesenden Praiosgesandten. Er fragt ihn, ob der Konvent in Anderath mit dem Überfall auf den Tempel zu tun habe. Der Geistliche bestätigt, überrascht davon, dass Cordovan diese Gerüchte kennt, dass es einen von Orks durchgeführten Überfall auf den Tempel gegeben hätte, bei dem großer Schaden angerichtet wurde. Zu der genauen zeitlichen Abfolge von Überfall und Ansetzung des Treffens antwortet er zuerst ausweichend, nach Cordovans gewohnt direkter Nachfrage dann damit, dass er es auch nicht genau wisse.

21. Ingrimm – Baliho

Wir erreichen Baliho gegen Mittag. Die Strassen sind an diesem vorletzten Tag der großen Warenschau stark bevölkert, die Menschen verhalten sich in meinen Augen recht rüpelhaft. Besonders negativ fällt uns ein Ritter auf, der in Begleitung eines Rondrapriesters und seiner Knechte durch die Straßen prescht und dabei keinerlei Rücksicht auf Mensch und Ware nimmt. Nur eine Ecke weiter werden wir beinahe von einer durch die Gassen galoppierenden Rinderherde überrannt, ein Vorzeichen auf die große Macht der so genannten Rinderbarone – echte Barone werden sie wohl kaum sein – auf die wir im Folgenden wiederholt hingewiesen werden.

Wir wollen zu unserem Treffpunkt, dem recht ordentlichen „Kaiserstolz und Orkentod“ am Marktplatz Balihos. Von Nadur ist vor Ort. Es muss sich um einen glücklichen Zufall halten, da er selber im „Pandlaril“ untergekommen ist, einem wohl recht ansehnlichen Hotel. Cordovans Frage, die ich nicht so gestellt, die mir aber ebenfalls unter den Nägeln brannte, ob von Nadur die Kosten für unsere Unterkunft übernimmt, beantwortet er beruhigenderweise mit „Ja“. Ansonsten gibt es nicht viel zu besprechen und uns drängt es zurück in die Menge. Als wir nach draußen treten, werden gerade an der alten Eiche auf dem Platz vor dem Gasthaus ein paar Schlingen angebracht. Die Hinrichtung von zwei Viehdieben steht an, wie immer ein dann doch recht kurzes Spektakel, hier leider sogar ohne die üblichen letzten Worte. Während wir dem Schauspiel beiwohnen und ab und zu ein „gut so“ und „jaja“ herausschreien, geraten wir in kurze Gespräche mit den Umstehenden. Hier wird uns nun das Gasthaus „Silbertaler“ empfohlen.

Noch während die Körper der beiden Viehdiebe von letzten Zuckungen durchzogen werden, löst sich die Menschenmenge auf. Uns zieht es auf die Festwiese. Diese ist deutlich kleiner als diejenige zu Trallop. Emmeran begibt sich bald zu seinen Gauklerfreunden, wo er ihnen einen Hinweis überbringt, dass ihr früherer Begleiter nun gesucht wird. Währenddessen streifen Cordovan und ich durch das Gelände, wobei „streifen“ bezüglich Cordovan sicherlich der falsche Ausdruck ist.

Schließlich gelangen wir zu einem Punkt, an dem Ausrufer ihre Nachrichten verkünden. Dort stößt auch Emmeran zu uns. Ein erster Ausrufer berichtet, dass am kommenden Abend mit der edlen tulamidischen Seraya ein besonderes Geschenk die Gäste des „Nordsterns“ erwarte. Es gibt hier in Baliho anscheinend eine kleine feine Kneipen und Gasthofkultur, die mit vollerer Tasche aber bestimmt mehr Spaß macht zu genießen.

Ein weiterer Ausrufer, der wegen seiner offensichtlichen Inkompetenz seinen Beruf betreffend fast alle Zuhörer innerhalb der ersten zwei Sätze verliert, dieser Ausrufer nun berichtet davon, dass es für eine Jagd im Osten mehrere Dukaten zu verdienen gäbe. Die Jagd sei nötig, schließlich lebten wir, wie allgemein bekannt, in fürchterlichen Zeiten. Wer Interesse habe und ein gestandener Krieger sei, der melde sich doch im „Kaiserstolz und Orkentod“, um dort dem Auftraggeber, einem gewissen Delian von Wiedbrück, seine Dienste anzutragen.

Wir machen uns auf in den „Kaisertod“, wie ihn einer meiner Begleiter in lustiger Verkürzung nennt. Da von Wiedbrück sich gerade mit einer Gruppe Abenteurer unterhält, setzen wir uns noch für einige Minuten. Kaum haben wir unsere Bestellung aufgegeben, werden wir Zeugen eines viel sagenden Schauspiels. Ein finsterer Typ mit Narbe im Gesicht und Peitsche in der Hand betritt den Schankraum. Er genießt sichtlich den Auftritt und wartet kurz, bis alle Gespräche verstummt sind. Dann zückt er seine Peitsche, um sie einem an einem hinteren Tisch aufgesprungenen und um Gnade flehenden Mann um den Hals schnellen zu lassen. Es handle sich für den so gestellten Mann, Arris ist sein Name, um eine letzte Warnung. Bis morgen solle er die 47 Goldstücke, die er schuldig sei, abliefern, sonst drohe ihm nicht näher spezifiziertes Ungemach. Cordovan und ich können uns das nicht lange mit ansehen und erheben uns. Cordovan baut sich, wie immer recht beeindruckend, vor dem Finsteren auf und macht ihn darauf Aufmerksam, dass er uns beim Essen störe. Auch sonst sei sein Auftritt grenzwertig, wie ich anfüge. Der Mann will jedoch nichts von uns wissen. Arris schulde seinem Vorgesetzten, einem Viehhändler namens Boswitz, Geld, dass dieser ihm gegeben hatte, wofür Arris aber keinerlei Gegenleistung erbracht hätte. Nun müsse dieser nun einmal die Konsequenzen tragen. Dann macht er sich von dannen, während wir kurz mit Arris, einem Sattler, sprechen. In der Tat ist er schuldig. Jedoch habe ihn Boswitz, jemand, mit dem man nicht spaßen könne, quasi zur Annahme eines Auftrages gezwungen, den er nun einmal nicht erfüllen konnte.

Außerdem kam auch noch einiges an Pech hinzu. Jedenfalls sei das Geld nun weg, die Arbeit nicht erledigt und seine Angst groß. Die Chance, bei uns das Geld zu bekommen, ist natürlich gleich Null. Zum einen hat keiner von uns 47 Dukaten, zum anderen will ich auch keinem bekennenden Schuldner helfen, der sich in Ausflüchten verliert.

In diesem Moment geht eine Seitentür auf. Eine Gruppe von sechs Söldnern, Frauen und Männer, die “Formidablen Sechs”, kommt feixend aus einem Nebenraum. Offensichtlich haben sie ein gutes Geschäft gemacht. In dem Raum sitzt von Wiedbrück, den wir drei nun gleich aufsuchen. Das Treffen mit unserem ehemaligen Führer ist ein Desaster, von Wiedbrück wird gleich im zweiten Satz schwer beleidigend, als er darauf hinweist, er brauche für seinen Auftrag – Korobar zur Strecke zu bringen – echte Kämpfer, nicht uns. Mit dem Gegenwort Cordovans, dass er sich das Ganze hätte ersparen können, wenn er damals in der Höhle seine Aufgabe erfüllt hätte, sind die Grenzen an Höflichkeit für die kommenden knapp zehn Minuten abgesteckt. Ich versuche vermittelnd einzugreifen. Jedoch spätestens, als von Wiedbrück sagt, er könne ja Cordovan und mich mitnehmen, nicht jedoch den nutzlosen Emmeran, ist es auch mir zu viel. Ich weise von Wiedbrück darauf hin, dass er bis heute offensichtlich nicht den Anteil Emmerans an der Verfolgung des Schreckens verstanden habe. Ohne Emmeran wäre es zu dem Kampf in der Höhle nie gekommen. Dass Emmeran beinahe sein Leben für seine Verfolgung gelassen habe, erwähne ich nicht mehr, denn auch das verstünde von Wiedbrück in seiner jetzigen emotionalen Verfassung sicherlich nicht. Es ist traurig, dass ein solcher Mann von der Statur eines jahrelangen KGIA- Agenten Emmerans Vorurteile gegen Obrigkeiten so leicht bedient. Wenn ich nicht auch viele andere Männer kennte, die Macht mit Verantwortung verbinden, ich würde wohl wie Emmeran denken.

Nachdem wir von Wiedbrück sitzen lassen, gehen Cordovan und ich noch schnell über den Platz vor unserem Gasthaus zuerst zum Wachhaus und von dort zum Gerichtsgebäude. Wir wollen uns die rechtlichen Rahmenbedingungen erläutern lassen, die eine Selbstanzeige von Arris ermöglichen könnten. Wir treffen auf die junge, zuvorkommende und sympathische Praiosgeweihte Praiogard, wobei mein Eindruck von ihr auch der „Leistung“ von Wiedbrücks geschuldet sein mag. Das selbstherrliche Auftreten des Lakaien des Viehbesitzers Boswitz findet sie auch unverschämt. Natürlich kann Arris ein ordentliches Verfahren bekommen, ohne genauere Kenntnis kann sie uns aber verständlicherweise keine verbindlichen Aussagen zum zu erwartenden Strafmaß geben. Wahrscheinlich sind Pfändung seines Besitzes und Fronleistungen für die dann noch ausstehenden Schulden. Während Cordovan und ich davon überzeugt sind, dass dies ein guter Ausweg für Arris aus dessen Schlamassel ist, interveniert eine Wache bei Praiogard. Ein solches Verfahren sollte nicht angestrebt werden, sie übersehe wohl die Konsequenzen nicht ganz. Man müsste Boswitz sowie weitere Zeugen vorladen, wobei man den Ausführungen Boswitzes doch Glauben schenken könne. Es gäbe nur Ärger, würde man sich mit einem der Viehbauern – er nutze wohl das Wort „Baron“ – einlassen.

Sofort merken Cordovan und ich, dass hier in Baliho wohl einige über dem Gesetz stehen. Cordovan fragt dann auch gleich nach den beiden Viehdieben, die vorhin an der alten Eiche baumelten. Diese hatten wohl keinen ordnungsgemäßen Prozess, den Ausführungen des vermeintlich bestohlenen Bauers wurde einfach Glauben geschenkt. Cordovan und ich, auf einem Verfahren bestehend, gehen schnell noch einmal in unseren Gasthof, um uns nach der Adresse des Sattlers zu erkundigen. Als wir ihn aufsuchen, will Arris jedoch nichts von unserem Ansinnen wissen. Lieber verlasse er Baliho für immer, als einen Prozess gegen Boswitz zu riskieren, der dann auch schlimme Folgen für seine Familie hätte. Offensichtlich sind weder Rechts- noch Gerechtigkeitsempfinden beim Sattler entsprechend ausgeprägt.

Wenn ich bedenke, was ich in den letzten Stunden von von Wiedbrück, der Wache im Gerichtsgebäude und Arris hörte, kann ich nur erneut der Welt mit einem Kopfschütteln gegenüber stehen.

*Aus den Gedanken von 
Wolfhart Raibridar von Horigan zu Welmshof,
Baron von Falkenberg, Ehrenbürger von Gratenfels,
Adept der Schule der Beherrschung zu Neersand*