Eine unvergessliche Nacht

Es ist der Abend des 21. Ingerimm. Ziemlich schnell wird mir klar, dass ich im “Silbertaler” keine Spur des von uns gesuchten Mannes finden werde. Die Stimmung hier ist bestimmt von den groben Flüchen der Viehtreiber und dem derben Gerempel, das an der vielen zu kurzen Theke entsteht. Kein Platz für einen Geschichtenerzähler, oder gar einen Magier oder Geweihten - die anderen waren vielleicht klüger, gar nicht erst mit hierher zu kommen. Sie beschäftigen sich noch immer mit der Geschichte des unglücklichen Sattlers und sprechen erst mit Schwester Praiogard und dann mit dem Mann selbst. Daraus entsteht später die Idee, den Rinderbaron Boswitz um Aufschub der Zahlung zu bitten – der könne sich doch vernünftigen Argumenten kaum verschließen…

Cordovan nutzt die Zeit außerdem für ein Gespräch mit von Wiedbrück, von dem er erfährt, dass dieser den Schrecken der Tobimora irgendwo entlang des Goblinstieges zwischen den Sicheln vermutet. Würde mich nicht wundern, wenn er auch versucht hätte, den Konflikt zwischen beiden, der gestern entflammt war, aufzulösen. Man sollte doch meinen, dass jemand, der so von der Richtigkeit seiner Taten überzeugt ist, sich nicht so oft für etwas entschuldigen muss, was er in Zorn oder Leidenschaft gesagt hat.

Es scheint eine glückliche Fügung, dass Cordovan im “Kaiserstolz und Orkentod” Rashid trifft, der gerade angekommen ist. Als der jedoch die Geschichte vom Sattler Ares hört, lässt er es sich nicht nehmen, diesen selbst aufzusuchen (und auch noch einen Umweg über den örtlichen Phex-Tempel zu machen). Danach ist er gerne bereit, den Abend mit uns anderen auf der Festwiese ausklingen zu lassen.

Am nächsten Morgen brechen Cordovan und Wolfhart sogleich zu einem Besuch bei Boswitz auf, den sie auf seiner Farm am Rande der Stadt vermuten. Am Haus des Rinderbarons angekommen treffen sie einen Viehtreiber, der behauptet, Boswitz könne sie heute nicht empfangen, ohne jedoch Rücksprache gehalten zu haben. Mit Hilfe seines magischen Talents ist Wolfhart allerdings ohne Schwierigkeiten in der Lage, denn Mann von der Dringlichkeit ihrer Mission zu überzeugen, und dieser setzt alles daran, seinem neuen “Freund” zu helfen, indem er die beiden direkt auf die Veranda des Hauses führt, wo Boswitz, ein fettleibiger Mann, bereits zum Frühstück eine Riesenportion Rinderbraten verschlingt. Das Gespräch ist schnell beendet, denn selbst die Drohung eines Gerichtsverfahrens scheint Boswitz nur zu amüsieren. Er schickt die beiden mit groben Worten weg, und es wird deutlich, dass sein Angestellter den Zorn des Rinderbarons spüren wird – ob Wolfhart weiß, was er da angerichtet hat? Ich bin jedenfalls froh, mich aus diesem Streit herausgehalten zu haben. Später am Tag stellt Cordovan bei einem Besuch in der Sattlergasse fest, das Ares bereits in der Nacht die Stadt verlassen hat – ob er nun vor der Strafe Boswitz’ oder vor dem drohenden Gerichtsverfahren geflohen ist, wird wohl sein Geheimnis bleiben …

In der Zwischenzeit fragt Rashid in den Gasthäusern der Südstadt unter dem Vorwand, einen Brief abliefern zu wollen, nach unserem Mann und erfährt, dass der Gesuchte – Reo Cordovan Sapalljo – sich in der Stadt befindet und die Nähe des Rinderbarons Boswitz sucht, und dass er des Öfteren im “Nordstern” gesehen wurde. (Rashid erneuert seinen Kontakt zu Nescor Erfold, dem örtlichen Phex-Geweihten, und erfährt nach dem Austausch geheimer Fingerzeichen, dass Sapallyo am heutigen Abend ebenfalls im Nordstern anzutreffen sein wird. Entsprechend verbringen wir den Rest des Tages damit, unsere Gedanken auszutauschen und uns auf den Besuch im Nordstern vorzubereiten.

Der Nordstern ist ein luxuriöses Spielhaus mit echten Glasfenstern im Gebäude des ehemaligen Efferd-Tempels. Wir betreten das Haus getrennt und beobachten, wie sich der Saal, eine Anordnung von Tischen, die alle auf die Bühne ausgerichtet sind, langsam füllt. Cordovan und Rashid betreten den Nordstern einzeln und suchen sich Plätze am Rande des Saals, um die Zuschauer beobachten zu können. Wolfhart und ich werden direkt an einen von drei Tischen direkt vor der Bühne geführt – ein Zeichen, dass die da Merinals meinen Hinweis bezüglich des Interesses der Praioskirche an der Reise des Herrn Sapallyo wohl zu schätzen wissen. Ich kann meine Freude über diesen großzügigen Gefallen kaum zurückhalten, kann ich doch Wolfhart zu etwas einladen, das ihm auch sein Titel heute Abend nicht ermöglicht hätte, und tatsächlich befinden wir uns in illustrer Gesellschaft. Am Nachbartisch zur Linken sitzt eine Frau, in der wir die Rinderbaronin Marja Ganjaneff, Boswitz’ größte Konkurrentin, zu erkennen glauben, zu unserer Rechten sitzen zwei Frauen und ein Mann in der Tracht der Travia-Geweihten.

Als Sapallyo den Raum betritt, erkennt Wolfhart ihn sogleich wieder, da er sich seit dem Zusammentreffen in Trallop nicht verändert hat: Sein weiches Gesicht wird von braunen Locken umrahmt, er trägt auffällige, teure Kleidung aus Bausch und Pluder. Zu unserer Überraschung begibt sich der Mann zu den Geweihten am Nebentisch und verwickelt diese in ein Gespräch. Als wir uns einmischen, werden wir sofort dazu gebeten. Die Sprecherin der Geweihten, Mutter Linai, eine füllige Frau mittleren Alters, ist mir auf Anhieb sympathisch. Sie spricht offen und gerade heraus und hat einen Humor, der ihren beiden Begleitern, Schwester Alwine und Bruder Sarkos, oft peinlich ist. Sie ist offensichtlich hier, um einen lustigen Abend zu verbringen und lädt uns später ein, an ihrem Tisch eine Pfeife mit Rauschkraut zu teilen. Reo verabschiedet sich sehr schnell und schiebt ein geschäftliches Gespräch vor - wir sehen ihn in Richtung Boswitz verschwinden, mit dem er sich in einen durch Vorhänge abgeteilten Raum zurückzieht.

Irgendwann später ertönt ein Gong, und schlagartig erlöschen alle Lichter. Während von irgendwo leise Musik einsetzt, kündigt der Besitzer des Nordstern, ein Brilliantzwerg, den lange erwarteten Tanz Serayas an. Als wir am nächsten Tag darüber sprechen, stellen wir fest, dass wir alle sehr unterschiedliche Erinnerungen an die folgenden Ereignisse haben:

Rashid berichtet vom Gespräch zwischen Sapallyo und Boswitz, das er vergeblich zu belauschen versuchte. Er sieht jedoch, wie einer kleiner Beutel an Boswitz übergeben wird und durch geheime Handzeichen ein Handel besiegelt wird. Einer von Boswitz’ Männern verlässt daraufhin den Nordstern und begibt sich - von Rashid unauffällig verfolgt - zu einem Haus in der Grafenstadt, wo er etwas abgibt.

Während Wolfhart und ich (und wahrscheinlich auch Cordovan, aber das würde er nie zugeben) gebannt dem Tanz folgen, werden wir Zeuge eines ungewöhnlichen Ereignisses. Bei den letzten Tönen der Musik sackt Mutter Linai plötzlich in sich zusammen und fällt mit verdrehten Augen und schmerzverzerrtem Gesicht nach hinten. Schwester Alwine spricht von einer göttlichen Vision, die nicht gestört werden darf, doch wir alle schrecken auf, als wir sehen, wie sich die Geweihte unter Schmerzen windet und ihre Haut zu verbrennen scheint. Dabei murmelt sie von “Feuer - einer großen Menschenmenge - Eidechse - Scheiterhaufen”. Sie erzählt uns später, dass in Dragenfeld Schwester Laniare, eine Dienerin der jungen Göttin Tsa, von einer wütenden Dorfgemeinschaft verbrannt wurde und sie in ihrer Vision ihre letzten Momente miterlebt hat, was uns natürlich sofort an unsere eigenen düsteren Visionen erinnert.

Wolfhart berichtet später von seinen Bemühungen an diesem Abend, mit Hilfe der Rahja-Geweihten, einer Freundin Mutter Linais, die ebenfalls im Nordstern anwesend war, mehr zu erfahren - alles im Dienste der gemeinsamen Sache versteht sich; und er scheint ihren Ablenkungen und Annäherungsversuchen dabei nicht erlegen zu sein.

Cordovan behält bei all der Aufregung und trotz seiner Sorge um Mutter Linai als einziger einen kühlen Kopf und es gelingt ihm noch, Sapallyo anzusprechen und sich für den nächsten Tag mit ihm zu einem Treffen zu verabreden.

Ich geleite Seraya da Merinal zu dem Lager ihrer Familie auf der Festwiese. Sie hat am Ende ihres Tanzes ebenfalls eine Erschütterung gespürt, die sie fast aus dem Rhythmus gebracht hätte, kann dies jedoch nicht näher erklären. Keiner der anderen fragt am nächsten Tag, wie ich an den Schleier der Tänzerin gekommen bin, der seitdem den Schaft meines Stoßspeeres schmückt, denn dass jemand, der im Nordstern den besten Tisch zugewiesen bekommt, auch mit der von allen bewunderten Tänzerin nach Hause geht, liegt doch auf der Hand. Und dieses eine Mal bin ich mehr als glücklich darüber, mir keine Geschichte ausdenken zu müssen. Wirklich eine unvergessliche Nacht.