Erwählte und andere Gestalten
Anderath, 24ter Ingerimm 1015 BF
Gerade haben wir die kurze Vorstellungsrunde beendet, da fliegt die Tür zum provisorischen Saal auf und eine siebenköpfige Delegation der Bannstrahler betritt den Raum. Da Vanya spricht den Führer der Gruppe mit „Erwählter“ an. Seinen Namen, Ucurian Jago, erfahren wir erst später.
Der Neuankömmling beherrscht sofort das Geschehen. Er reißt die Diskussion an sich. Schnell erkennen auch weniger empathisch begabte Menschen, dass es einige Spannungen im Saal gibt. Jago, ganz seiner Profession entsprechend, steht den Spektabilitäten reserviert bis ablehnend gegenüber. Brunn Baucken hingegen scheint dem „Erwählten“ wohl gesonnen, was man wiederum von Da Vanya nicht behaupten kann, dem schon bei der Begrüßung Jagos ein gewisser Missmut anzumerken ist. Uns – einschließlich Mutter Linai – begegnet Jago mit Skepsis, dann zunehmend mit Desinteresse. Mehrmals im folgenden Gespräch werden wir von ihm oder Baucken „überhört“.
Zuerst gelingt es uns jedoch, zumindest Mutter Linai den Inhalt ihrer Vision vortragen zu lassen, da in einer ersten Diskussion durch Jago ebenfalls eine Vision erwähnt wird. Nach einem kurzen Hin und Her, in dem Jago in Zweifel zieht, dass wir etwas in Dragenfeld erreichen können, ergreift Magister Selara Moriani das Wort. Wir hätten das Recht zu erfahren, wovon hier überhaupt die Rede sei.
Die Schule der Austreibung zu Perricum, deren stellvertretende Spektabilität sie ist, beherbergt zur Zeit einen Magus aus Festum. Dieser ist seit einem Besuch in Selem offensichtlich nicht mehr bei Sinnen. Er redet unentwegt davon, dass in den Namenlosen Tagen ein Magier unter einem Regenbogen geboren würde, der seine Feinde mit einer roten und einer schwarzen Sichel niederstrecken wird. Ich denke mir, dass dies kein Zufall sein kann, schließlich ist der Regenbogen ein Symbol der Tsa und die Farbe der Sicheln lässt mich sofort an die Lage Dragenfelds denken – wobei man wahrlich nicht Magister sein muss, damit einem das auffällt. Die „Zeichen“ sind doch ausgesprochen klar.
Eine zweite Geschichte ergänzt das sich immer klarer abzeichnende Bild: Baucken hatte Anfang Ingrimm eine Vision, die der ersten Cordovans nicht unähnlich war. Auf einem Berg, die Anwesenden meinen den Naira Kubuch, den höchsten Berg der Roten Sichel ausgemacht zu haben, schlüpft aus einen Greifenei eine Eidechse, die sich in eine Schlange verwandelt und danach ihre Eltern, Greifen, verschlingt.
Ich weise auf Cordovans Vision hin, die er im Folgenden kurz wiedergibt. Nachdem er das Datum seiner ersten Vision nennt, entfährt es Mutter Linai, dass es sich dabei um den Tag des Frühlingsfestes der Tsa handle. Das kann kein Zufall sein! Schwester Laniare war nach der Vision Linais von den Dorfbewohnern Dragenfelds für einen Frevel verbrannt worden, den sie an eben diesem Tag begannen hatte. Kaum erwähnt Mutter Linai diesen Punkt, denkt der „Erwählte“, ganz Mann der Tat, daran, erst einmal alle Tsa-Tempel in Weiden zu stürmen, schließlich hätten dort alle Übel begonnen. Während des aufkommenden hitzigen Wortgefechts, in dem Thiron von Uckelsbrück Jago mehrer Male Kontra gibt, bemerke ich, wie Emmeran und Mutter Linai zuerst miteinander und dann kurz mit da Vanya tuscheln. Dieser ergreift daraufhin das Wort und gibt folgende Anweisungen: Bis zum 15. Rahja haben die Traviageweihte Linai und ihr Gefolge Zeit, Nachforschungen in Dragenfeld anzustellen. Danach werde die von Jago angedachte Untersuchung der Tsa-Tempel erfolgen. Jago wiederum solle mit einem Trupp zum Naira Kubuch aufbrechen, um dort nach Hinweisen zu suchen. Die anwesenden Magister sind angehalten, weitere Quellen aufzutun. Schon für uns schein der Zeitplan straff, wir haben maximal fünf Tage in Dragenfeld. Wie Jago ernsthaft den Naira Kubuch erreichen und dort nach Zeichen suchen soll, bleibt uns schleierhaft. Ein Schelm, wer darin eine Spitze da Vanyas erkennt…
Bevor wir uns auf die Reise machen, berichte ich den beiden anwesenden Magistern von meinen Analysen, die ich während Gernwards Martyrium an diesem mittels eines Arcanum vorgenommen habe. Es ist hauptsächlich von Uckelsbrück, der meiner Analyse wenig Vertrauen schenkt. Ich weise ihn darauf hin, dass sich meine Analysen bisher als verlässlich herausstellten und dass gerade das mich ob der von mir entdeckten Merkmale selber stark verunsichere. Auch wenn die beiden mir nicht glaubten, so sollten sie doch bitte die Ergebnisse, die ich gewann, immer im Hinterkopf behalten, um im entsprechenden Fall offen für die richtigen Schlüsse zu sein. Moriani verspricht mir, sich mit mir nach unserer Rückkehr noch einmal zusammen zu setzen. Ich freue mich schon sehr darauf, habe ich so erneut die Chance, meine Neugierde meiner Profession gemäß auszuleben.
Nachdem wir uns von da Vanya verabschieden, kann sich Cordovan nicht eines kleinen, neckischen, aber wahren Kommentars enthalten: Emmeran sei ja erstaunlich mutig gewesen, sich einer solchen Gruppe von Bannstrahlern auszusetzen. Emmeran bestätigt, dass er sich selten so unwohl gefühlt habe. Auf einen weiteren Kommentar von mir erklärt er, der Kampf gegen den Schrecken sei verglichen mit der Anwesenheit einer solchen Masse an Praiosgeweihten ein Leichtes gewesen. Wir machen uns auf den Weg in das ca. 40 Meilen entfernte Braunsfurt. Am späten Nachmittag werden wir von einem Bauernjungen angehalten, der sich als Räuberbaron Terkol von Buchenbruch ausgibt. Wir sollen ihm 5 Dukaten und die holde Dame aushändigen, sonst drohe uns Ungemach. Während wir anderen belustigt auf den Kleinen reagieren, zeigt sich Cordovans Prinzipientreue leider wieder von ihrer schlechten Seite. Cordovan setzt den Jungen gehörig unter Druck, nur schwerlich lässt er sich davon abbringen, dem Jungen den Hosenboden zu versohlen – lange Ohren zieht er ihm aber. Ich gebe dem Kleinen, dessen Name eigentlich Peldor Blaufüchsen ist, drei Kreuzer. Ich behaupte, dass ich gerade erst drei Dukaten in diese Kreuzer verwandelt habe und diese sich, wenn er sich gut benähme, wieder zurückverwandelten. Das könne aber dauern, schließlich habe er gerade Unrechtes im Sinn gehabt.
Peldor bringt uns zum Hof seiner Eltern, auf dem wir seinen Vater gleichen Namens sowie seine Mutter, Marita, kennen lernen. Sie zeigen sich ausgesprochen gastfreundlich. Nachdem es abends zu einem kleinen Spiel zwischen Emmeran und Peldor Junior kommt, bei dem derjenige gewinnt, der die beste Geschichte erzählt, werden wir durch Pferdegeräusche aufgeschreckt. Cordovan geht zur Tür. Draussen steht Ayla von Schattengrund, die wir vor langer Zeit auf der Suche nach dem Schrecken der Tobimora ebenfalls zur Nacht trafen. Sie sieht ausgemergelt aus. Sie ist auf dem Weg aus Tobrien zum Hochmeister ihres Ordens auf der Feste Rhodenstein, einem Rondraorden, der sich Heiliger Orden der Wahrung nennt. Ayla hat in den letzten Nächten kaum geschlafen und ihr Pferd auf dem eiligen Ritt – sie hat aus Ysilia bis zum Hof nur sechs Tage benötigt – arg in Mitleidenschaft gezogen. Auf die Frage Emmerans, ob sie schlecht schlafe, geht Ayla zuerst nicht ein. Nachdem Mutter Linai von ihrer Vision berichtet, bestätigt Ayla, dass sie seit Monaten wiederholt von schlechten Träumen geplagt wird. In diesen ist sie in etwas Grauem gefangen. Jedoch hat sie, im Gegensatz zu uns, nicht das Gefühl, dass es sich um fremde Träume handele.
Des Weiteren berichtet uns Ayla davon, dass in Weiden ein schwarzer Mann umgehen soll – die Geschichten erinnern uns stark an den Schrecken. Letzten Gerüchten zu Folge ist er auf dem Weg zum Sichelstieg.
25te Ingerimm 1015 BF
Wie wir anderen am nächsten Morgen von Cordovan erfahren, ist er des Nachts durch Schreie aus dem Zimmer des jungen Peldor erwacht, dem Zimmer, in dem Ayla von Schattengrund nächtigte. Als er in das Zimmer stürmte, habe er gesehen, wie sie sich selbst verletzte – ich kann mir die Situation aufgrund meiner Erfahrung mit Cordovans Traum nur all zu gut vorstellen. Die Zwölfe seinen Dank, dass ich nicht darüber nachdenken musste, wie ich eine Rondrageweihte aus ihrem Traum erlöse. Cordovan hängte Ayla, nachdem seine Schläge zu einer kurzfristigen Verschlimmerung des Zustands führten, sein Boron-Symbol um den Hals und gab ihr ihr Schwert in die Hand. Sie wachte kurz darauf auf, um mit trauriger Stimme festzustellen, dass ihr ihre Göttin fremder würde. Anscheinend hat Cordovan daraufhin die richtigen Worte gefunden, denn am kommenden Morgen tritt uns eine erholte Ayla von Schattengrund entgegen. Bevor sie weiter reitet, erzählt sie uns noch, dass vor kurzem ein Orkhäuptling namens Rrul’ghargop aus der Feste Rhodenstein geflohen ist. Er hatte eine Prinzessin der Amazonen namens Gilia von Kurkum entführt.
Kurz nach Ayla machen auch wir uns auf den Weg. Bevor wir abreisen, nehmen zuerst Emmeran und dann ich den jungen Peldor noch einmal zur Seite. Auch wenn ich Cordovans Auftreten unpassend fand, ist es wichtig, dem Jungen frühzeitig über Recht und Unrecht aufzuklären. Lieber soll er doch den Baron aus Emmerans Geschichten zum Vorbild nehmen, als dafür einen Räuberbaron auszuwählen.
Am Mittag erreichen wir Braunsfurt. Während des Mittagsmal erfahren wir, dass ein schwarzer Mann in der Nähe sein Unwesen getrieben haben soll. Nachdem wir den Ort auf dem 7-Baronien-Weg verlassen, entdecken wir kurz hinter dem Dorf Sieben Birken mehrere Erhängte, unter ihnen einen schwarzhäutigen. Ich dränge darauf, dass wir weiterreisen, auch wenn mich wie Emmeran und Cordovan die Neugierde packt, im Dorf nach dem Anlass zu fragen.
Am Abend erreichen wir den kleinen Weiler Elderwald mit seinen knapp 200 Einwohnern. Während Mutter Linai im Traviatempel absteigt, hören wir beim Abendessen die Geschichte vom „Schrecken der Acheburg“.
26te Ingerimm 1015 BF
Nach der mühsamen Reise durch eine Klamm, die durch die Unzulänglichkeiten, die Rashids Pilzvergiftung mit sich bringt, noch anstrengender wird, erreichen wir den ca. 700 Seelen zählenden Ort Braunklamm. Bevor wir den Ort betreten können, müssen wir mit insgesamt drei Silberstücken einen recht hohen Wegzoll entrichten. Wobei: Bei dem, was uns sicher noch bevorsteht, ist das vielleicht ein günstiges Eintrittsgeld!
Aus den Gedanken von
Wolfhart Raibridar von Horigan zu Welmshof,
Baron von Falkenberg, Ehrenbürger von Gratenfels,
Adept der Schule der Beherrschung zu Neersand