Einen Falken zu jagen
Die ersten Strahlen der Praiosscheibe warfen ihr Licht auf das kleine Wehrgehöft am nördlichen Rand von Anderath. Aaron von Nadur hatte bereits sein Morgenroutine erledigt und durchquerte mit energischen Schritten das provisorisch errichtete Lager der Praiosorden. Um den Hof herum waren mehrere große Zelte aufgebaut, deren Farben und Wappen der Geweihtenschaft, dem Orden der Bannstrahler und gar der Sonnenlegion zugehörig waren. Über allen wehte in trügerischer Einigkeit das Greifenbanner. Aaron spürte die Blicke der Soldaten und Geweihten auf sich, hing jedoch eigenen Gedanken nach. Ehemals ein Mitglied im Orden der Heiligen Hüter, wusste der Mittvierziger mit der markanten Adlernase und den hellen, braunen Augen, dass er nicht mehr auf die gleiche Art dazugehörte. Seine Reisekleidung aus rotbraunem Leder, die kein Wappen zierte, tat das äußerlich kund, doch mehr noch waren es die neugierigen Blicke, in denen in den letzten Jahren viel zu häufig furchtsamer Respekt zum Ausdruck kam.
Nach Abschluss der Verhandlungen mit dem horasischen Signore in Baliho war Aaron nach Anderath aufgebrochen, um seinem Herrn zu berichten und sich dort mit seinen Kontakten zu treffen. Da Vanya, er korrigierte sich in Gedanken schmunzelnd, der Herr Ordentlicher Inquisitionsrat, quittierte das Resultat aus Baliho mit einem düsteren Stirnrunzeln, einer Geste, die geringere Männer ins Schwitzen gebracht hätte. Aaron jedoch stand seit fast zwölf Jahren in den Diensten da Vanyas und er ging für seinen Herrn an jene Orte, zu denen dieser selbst nicht zu gehen vermochte. Da Vanya war es, der den zweifelnden, jungen Hüter damals auffing, und Aaron dankte es dem gütigen Mann aus Almada mit seiner unerschütterlichen Loyalität.
In den frühen Morgenstunden, noch unter dem Mantel der Nacht, erhielt Aaron eine Nachricht, die da Vanya brennend interessieren dürfte. Ihn selbst beflügelte die Neuigkeit mit Tatendrang und weckte eine alte Neugier. Seit er 1012 BF auf den Silkwiesen zum ersten Mal da Vanyas Auftrag nachkam, die Firnelfe im Auge zu behalten, liess sie ihn nicht mehr los. Nur zu gut erinnerte Aaron sich an die verklärten Gesichter und andächtigen Stimmen, die ihm von der schneeweissen Schönheit auf den blutigen Schlachtfeldern berichteten, die Trost spendete und deren Berührung Linderung brachte. Die Elfe, Liasanya Sternenruf, entwischte ihm in der Unordnung, die die größte Schlacht der jüngeren aventurischen Geschichte in der Reichshauptstadt hinterlassen hatte. Aaron setzte seine besten Leute darauf an, die Spur aufzunehmen und spürte die Elfe in Tobrien auf, nur um sie wieder zu verlieren. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken, wenn er daran dachte, was er mit einer Kompanie dieser Elfen zu tun vermochte, die kamen und gingen, wie es ihnen gefiel, und über Elfenpfade scheinbar Hunderte von Rohalsmeilen an nur einem Tag zurücklegen konnten. Trotz solcher Rückschläge hinterfragte Aaron nicht, warum da Vanya gute Männer quer durch Aventurien auf der Suche nach einer einzelnen Elfenfrau trieb. Sein Herr tat nie etwas leichtfertig.
Aaron nickte der Wache am Eingang des Gutshauses knapp zu und eilte durch den kurzen Flur zum behelfsmäßigen Ratssaal der Inquisition. An der Stirnseite des Saales hinter einem hölzernen Kartentisch saß Amando Laconda da Vanya, ein großer und muskulöser Mittsechziger in rotgoldenem Ornat, auf einem schweren Eichenthron. Eine Novizin stand an seiner Seite und nahm ehrfürchtig eine schnell diktierte Reihe von Befehlen entgehen, die der Inquisitionsrat im Laufe des gerade begonnenen Tages erledigt wissen wollte. Seit dem 24. Ingerimm fieberte das Lager trotz aller Disziplin der Rückkehr der beiden Erkundungstrupps entgegen. Aaron hatte sich vergnügt erzählen lassen, wie da Vanya eiskalt den Erwählten Ucurian Jago und seine Bannstrahler in die Rote Sichel ausgeschickt hatte und damit der Gruppe aus Tobrien in Begleitung der Mutter Linai die Chance gab, die Wahrheit in Dragenfeld herauszufinden. Und doch sah Aaron bei seinem Herrn die zunehmende Anspannung je näher der zum Stichtag bestimmte 15. Rahja rückte. Er kannte das Gefühl nur zu gut, Männer in ihren möglichen Tod zu schicken.
Mit einem knappen Blick aus seinen wachen, schwarzen Augen bemerkte da Vanya seinen vertrauten Gesandten und entließ die anwesende Novizin mit einer letzten Bemerkung, “Oberst Cortega hat seine Marschbefehle. Morgen zur Praiosstunde will ich den Tross auf dem Sieben-Baronien-Weg gen Salthel sehen. Praios mit Euch.” Aaron salutierte respektvoll, die rechte Hand vor der Brust und die linke am schmuckvollen, mit einem wuchtigen Bernstein verzierten Knauf seines Schwertes, und kam sogleich auf den Punkt. “Liasanya, mein Herr. Ich habe sie gefunden.” In knappen, präzisen Worten berichtete Aaron davon, dass die Firnelfe sich in der Obhut der Heiler am Seminar der elfischen Verständigung und natürlichen Heilung zu Donnerbach befand. Die Auenläufer der Morgentauglanz-Sippe hatten sie im Monat der Peraine in den unzugänglichen Sumpfgürteln nahe des Neunaugensees gefunden. Aus der Depesche, die seine Spektabilität Jesko von Koorbruch, der durch und durch zwölfgötterfürchtige, schmächtige Graumagier, gen Obrigkeit gesandt hatte, wusste Aaron zu berichten, dass Liasanya “von scharfer Klinge verwundet war” und “Bishdariel der armen Kreatur grausige Träume schickt”, ein Umstand der die Spektabilität an eine Anfrage aus dem Tsa erinnerte. Im gleichen Schreiben beschwerte sich von Koorbruch über die Morgentauglanz-Elfen und die “Unverfrorenheit des alten Zauberwebers, ihm etwas von einem weissen Falken zu erzählen und zu fordern, sie zu alleine zu sprechen”. Die Erklärungen der Firnelfe nach ihrer Genesung beschrieb von Koorbruch als Hanebüchen, weder “Panlariêls Stadt” noch “die Hallen voller zer’taubra, neugarethisch nach elfischer Weltsicht verdorbene Magie” und gar nicht erst “Träume von einem varra dioy, neugarethisch Öffner der Tore” seien überzeugend.
Da Vanya grübelte eine gute Weile über den Bericht nach, bevor er den Befehl gab, den Aaron schon bei Betreten des Saales erwartet hatte. “Ausgezeichnete Arbeit, Aaron. Gleiches gilt für Deinen Kundschafter in Weiden.”, lobte da Vanya und fuhr fort, “Reite umgehend nach Donnerbach. Überbringe Liasanya meine dringende Einladung und geleite sie zur Burg Aarkopf. Bei Praios’ Sohn, ihre Augen von funkelndem Bernstein sehen etwas, dass uns Menschen verborgen bleibt.” Wenig später schwang sich Aaron von Nadur auf seinen Rappen und verließ das Praioslager in Richtung Norden. Er verschwendete keinen Gedanken an den scharfen Ritt, der vor ihm lag, sondern grübelte über all das, was da Vanya nicht gesagt hatte. Die Zeichen häuften sich, ein Umstand, den Männer mit weniger Weitblick als der Inquisitionsrat vielleicht abtun mochten.