Eine Begegnung in Donnerbach
“Am Gôrondaril, den die telora Donnerbach nennen, ringen seit Anbeginn der Zeiten zerza und nurdra um Ausgleich miteinander. An manchen Tagen kann man hier die alten Lieder unserer Ahnen spüren, die einst in den Kavernen des Gôrothir erklangen und deren Macht noch heute die Melodie der Welt verändert.”
- Liasanya Sternenruf
Die borstigen Tasthaare wackelten aufgeregt an der Nasenspitze der kleinen, braunen Waldmaus, als sie sich misstrauisch aus der dichten Hecke hervorwagte. Forsch wetzte die Waldmaus durch sorgsam bepflanzte Wildblumen und Kräuterbeete auf die Mitte des schattigen Gartens zu, um einen besseren Eindruck von dem Eindringling zu bekommen. Dort, am Ufer des schilfbewachsenen Teiches, hockte eine Gestalt, die nachdenklich mit leichter Hand die Seerosen auf der Wasseroberfläche in Schwingungen versetzte. Der Mäuserich erkannte in ihr eine Elfe, wenn auch etwas an dieser Elfe seltsam blieb. Nicht nur, dass sie gänzlich weiße Haare hatte, so wie ein hauchdünner Schleier aus jungem Schnee, nein, dachte sich der Mäuserich, das war keine Elfe der Auen oder der Wälder wie sie in der Stadt der Zweibeiner am donnernden Fluss bekannt waren. Umso verdutzter war der kleine Nager als die Elfe sich umdrehte und den Mäuserich im melodischen, zweistimmigen Sprechgesang ihres Volkes aufforderte, herüber zu kommen. Für einen winzigen Moment erfasste ihn Panik, wie er sie sonst nur im Schatten großer Raubvögel am Himmel kannte, doch dann war auch diese wie weggeblasen.
Liasanya Sternenruf saß im Halbdunkel der Pergola des Seminargartens und sprach flüsternd zu der kleinen Waldmaus auf ihrer Handfläche. Zuversichtlich, dass das tapfere Tier ihre Botschaft verstanden hatte, setzte sie es wieder auf den Grasboden am Teichufer und, beobachtete wie es davon huschte. Die Firnelfe befand sich seit einigen Wochen am Seminar der elfischen Verständigung und natürlichen Heilung zu Donnerbach und erholte sich von verheerenden Alpträumen, die sie seit Tsa 1015 BF plagten. Der Auenläufer Nandirion Wellentänzer von der Morgentauglanz-Sippe hatte sie am sumpfigen Ufer des Neunaugensees gefunden, verletzt und völlig erschöpft. Wie zur Erinnerung legte Liasanya beim Aufstehen kurz ihre Hand auf den glatte, narbenlose Haut an ihrem Bauch. Von der Stichwunde war nichts mehr zu sehen oder zu fühlen, das mandra der Heiler am Seminar hatte die äußerlichen Verletzungen in den ersten Tagen verschwinden lassen. Die Erinnerungen an die Träume blieben jedoch. Die Ruhe und Fürsorge am Seminar ließen sie verblassen, doch Liasanya wusste, dass sie erst im salasandra ihrer Sippe gänzlich loszulassen vermochte. Gleichzeitig nahm mit jedem Lauf Madas ihre Sorge zu, dass ihr Erlebtes die Melodie der Sippe stören könnte, etwas das sie nicht riskieren würde. Für einen Moment überwältigte sie das stets präsente Heimweh nach ihrem sala und den eisigen Weiten der firndra.
Die Firnelfe ging zu dem einstöckigen, aus Holz erbauten, teils gewachsenen Hospital am Nordrand der Lichtung des Seminars herüber, dass sie seit ihrer Ankunft in Donnerbach beherbergte, und erkannte, dass sie erwartet wurde. Der athletische tala trug rotbraunes Leder, ein Schwert mit Holzgriff an der Seite, und musterte sie aus harten, dunklen Augen. Unwillkürlich verlieh Liasanya ihrem Misstrauen eine Melodie und ließ das mandra in ihr erklingen. Der Fremde trat auf sie zu mit den Worten, “Magister von Falkenstein sagte mir, dass ich Euch vermutlich im Ruhegarten finde.” Der tala streckte ihr die Hand entgegen und fuhr fort, “Mein Name ist Aaron von Nadur. Es freut mich Euch endlich persönlich kennen zu lernen.” “Sanya bha, tala. Feydha Liasanya Sternenruf.”, antworte die Firnelfe und ließ zu, dass der Fremde einen kurzen Moment ihre Hand hielt. “Mein Herr, Amando Lacondo da Vanya, sendet seine fürsorglichen Grüsse. Als wir von Eurem Unglück hörten, bat er mich umgehend aus Salthel zu Euch aufzubrechen.” Liasanya nahm es still, aber nach den Jahren weiterhin verwundert hin, dass der tala sich freiwillig einem anderen unterwarf. “Wenn Ihr soweit genesen seid, wäre es mir eine Ehre Euch dorthin zu geleiten.” Sie erinnerte sich gut an da Vanya und das erste Zusammentreffen in Koschtal. Während dieser damals im Licht seines Gottes ruhte und geblendet in die Finsternis der kommenden Nacht starrte, stand der tala vor ihr bereits selbst im Dunkel und sehnte sich nach dem Licht. Liasanyas Blick ruhte nachdenklich auf ihrem Gegenüber, bevor sie ihm leise antwortete, “A’dao bhanda, Aaron, ich denke darüber nach.”
Aaron fühlte wie er die Oberhand verlor. Er hatte mehr als genug schöne Frauen in seinem Leben gekannt, so dass er sich nicht von der seidigen Haut, der elfischen, kühlen Schönheit oder der viel zu luftigen Kleidung einschüchtern ließ, doch diese goldenen Augen ließen ihn innerlich erzittern. Sie schimmerten wie eine Träne Ucuris, in der sich Praios Antlitz spiegelte. Mühsam konzentrierte sich Aaron auf den Auftrag und fragte gewohnt methodisch, aber von seinen eigenen Gedanken abgelenkt, die Träume und Erlebnisse der Firnelfe ab, von denen sein Kundschafter und die Seminarleitung berichtet hatten. Aaron wurde jäh in die Wirklichkeit zurückgeholt, als sich abzeichnete, dass die Träume den bekannten Mustern folgten und hier längst keine Zufälle mehr am Werk waren. Entgegen seiner üblichen Zurückhaltung hielt er es für hilfreich, die Firnelfe ins Bild über Dragenfeld und ihre Bekannten zu setzen, “Ich muss gestehen, dass es nicht nur Fürsorge ist, die mich hier her bringt. Da Vanya hält sich in Weiden auf, um einen Frevel an…” Er stockte kurz und verbiss sich den Verweis auf die zwölfgöttliche Ordnung, “… an der Welt in Dragenfeld zu untersuchen. Ihr seid nicht das einzige Opfer dieser erschreckend lebensechten Alpträume.” Er sah, dass er Liasanyas Interesse geweckt hatte, und fühlte wie er die Kontrolle zurückgewann. “Eure Gefährten von damals, Wolfhart, Emmeran, Cordovan und Rashid, sind nach Dragenfeld aufgebrochen.”, auf die Titel verzichtete Aaron gleich, die würden der Firnelfe nichts bedeuten, “Sie leben, ich habe kürzlich Nachricht erhalten. Doch sie haben Schreckliches erlebt, und Dragenfeld selbst ist eine verheerte Ödnis. Mein Herr sammelt die Informationen, in der Hoffnung vorbereitet zu sein, auf das was noch kommen mag.” In dem Versuch die Reaktion der Elfe zu lesen, bemerkte Aaron, wie er sich wieder in diesen leuchtenden, bernsteinfarbenen Augen verlor. Er schaute verstört weg und fragte sich, ob dies eine häufige Augenfarbe in ihrem Volk war oder Ucuri tatsächlich eine Träne bei ihrer Geburt verloren hatte. Durch diese Überlegungen nur noch verstörter, schalt er sich selbst und diesen Aberglauben einen Narren und verdrängte den Gedanken.
Liasanya atmete tief ein und roch dabei den Regen des vergangenen Tages, der sich im dichten Unterholz des Waldes und im Humusboden der Lichtung niedergesetzt hatte. Dieser wie auch andere Sinneseindrücke, denen sie in den fruchtbaren und lebendigen Landen südlich der firndra gewahr wurde, überraschten sie immer wieder. Sie musste daran denken, wie jung und schnelllebig die telora waren. Sie kannten kein Lied wie das des Emetiel, das ihnen ihren Ursprung lehrte. Trotz aller Bücher und Schriften schien es Liasanya manchmal als würden die telora die Geschichte immer wieder neu lernen. Gleichsam hatte sie erst vor kurzem in der Schlacht auf den Silkwiesen (also vor dreieinhalb kurzen Jahren) erlebt, zu welchem sturen Mut die telora im Angesicht einer überwältigenden Übermacht fähig sind und wie sie sich im entscheidenden Moment über all ihre kleinen Streitereien erhoben haben, um ein Opfer für ihre Gemeinschaft zu erbringen. Liasanya ahnte insgeheim, dass das Schicksal des kommenden Zeitalters durch die telora und ihren Überlebenswillen bestimmt würden.
Der tala vor ihr suchte ihren Blick, blickte dann aber schnell wieder weg. Liasanya zweifelte häufig, wem sie in den Ländern der telora trauen mochte, insbesondere die Herrschenden und Götterhörigen schienen viel zu sehr in ihren unbedeutenden Machtspielen gefangen, als dass sie einer firnya’fae Glauben schenken konnten. Das Tor stand offen, der Schänder-der-wiederkehrt, der Geist-der-das-Licht-verdrängt war hindurch getreten. Es konnte kein Zufall sein, dass die anderen dort gewesen waren. Liasanya fasste den Entschluss, ihre eigene Suche hinten anzustellen. “Ich werde Dich begleiten, Aaron, und da Vanya vom mhair thaintalwa nurdraza, vom letzten Sommer, erzählen in der Hoffnung, dass er davon lernt, bevor das Lied Alfadriels erklingt. Bhardona, die Begehrenbringerin und Mutter der feyra, streckt ihre verderbte Hand aus nach den Herzen der telora.” Sie konnte das Erstaunen in Aarons Gesicht lesen, und fuhr fort, “Ich zweifele, dass er mir sogleich glauben wird, oder andere in ihrem ständigen Zwist um Macht und Götter, den Kriegen überzeugen vermag. Meine Hoffnung ist jedoch, dass er vorbereitet ist für den Tag, an dem sich die telora nicht mehr vor der Wahrheit verschließen können.”
Die Sonne ging über den Wipfel der Waldlichtung, die das Seminar am Rand von Donnerbach beherbergte, unter und eine sternenklare Nacht senkte sich über die heimeligen Holzhäuser der einzigen Magierakademie Weidens. Aaron von Nadur saß auf der Holzveranda des Dozentenhauses, das häufig auch der Unterbringung von Besuchern diente. Aaron blickte in den dunklen Nachthimmel und die unzähligen Sterne, die sich leuchtend dagegen abzeichneten. Seine Begegnung mit Liasanya war nicht so gewesen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Vor Gareth hatte er die mitfühlende und beruhigende Seite der Firnelfe kennen gelernt. Heute hatte er den Fehler gemacht, sie wie einen der Elfen am Yaquir oder einen Menschen zu sehen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich fühlen musste, den Überlebenskampf ihrer Jahrtausende zurückreichenden Gemeinschaft gewohnt, und nun alleine unter Fremden. Wie eng musste ein Volk leben, um sich gegen die ewige Kälte und den Hochmut ihrer Ahnen über all diese Zeit zur Wehr zu setzen?