Ein Winter in Weiden

Ein kühler Morgenwind rieb sich beharrlich an der trutzigen Burganlage Trallops und zupfte solange an den Fensterläden, bis er seinen frostigen Gruß ins Innere getragen hatte. So wehrhaft und ehern die Bärenfeste über der weidschen Stadt aufragte, ließ der klare Morgen Mitte Travia 1015 BF bereits erahnen, dass in den kommenden Monden der Winter das Land in seiner unbarmherzigen Hand halten würde. Liasanya Sternenruf stand auf dem mehrere Schritt breiten Wehrgang und blickte über die wuchtigen Zinnen hinweg auf die Lande. Die alte Herzogenstadt lag an der Mündung des Pandlaril in den dunkel umwölkten Neunaugensee. Der klare Strom teilte die Stadt in vier Inseln, bevor er schließlich in den tiefen Binnensee am Fuße der Salamandersteine mündete. Das Stadtbild war beherrscht von den hohen Mauern und Wehrtürmen der burgartigen Grenzstadt, in deren Inneren die spitzen Giebel der schmucken Häuser sich gen Himmel reckten. Die Firnelfe auf den Zinnen der Bärenfeste trug eine Hose aus hellem Wildleder mit weißem Pelzbesatz und ein hastig übergeworfenes Bauschhemd, das sie in Donnerbach erhalten hatte. Manch einem Burgbewohner, der die einsame Gestalt hoch auf dem Wehrgang sah, fröstelte es unwillkürlich, doch Liasanya spürte den kalten Wind kaum auf der Haut. Ihr Blick ging nach Norden und versuchte die düsteren, tiefhängenden Wolkenfetzen und Nebelschwaden zu durchdringen, um die hochaufragenden Salamandersteine in ihren zahlreichen Schattierungen aus Grün, Grau und Blau am Horizont zu betrachten. Viel war in den letzten Monden passiert, dachte Liasanya und rief sich ihr Zusammentreffen mit Amando Laconda da Vanya auf der Burg Aarkopf in Erinnerung. Dort hatte sie zu ihrer Überraschung von der Einladung Waldemar des Bären, des “Herzogs”, erfahren. Zuerst wollte sie ablehnen, was Herrschende anging, sagte man dem tala aus Weiden nach, dass er den Umgang mit den einfachen Leuten nicht verlernt hatte, aber den Weidenern war ein Aberglaube und lähmende Ehrfurcht gegenüber Elfen eigen, die bestenfalls zu Mißverständnissen, schlimmstenfalls zu Problemen führte. Es war schließlich Aaron von Nadur, der sie umstimmte. Liasanyas Reisebegleiter der letzten Wochen erzählte, dass ihre Gefährten von damals, Cordovan, Wolfhart, Emmeran und Rashid ebenfalls auf die Bärenfeste eingeladen seien, und bot an, sie nach Trallop zu begleiten. Liasanya setzte ihren morgendlichen Spaziergang fort und genoss die frische Luft und die weite Landschaft, bevor sie in die im Vergleich dazu stickigen, von meterdicken Mauern eingeschlossenen Gemächer im langgestreckten Herzogenbau zurückkehrte.

Gegen Abend klopfte es an ihrem Zimmer und ein tala in einfacher Kleidung brachte Liasanya in den mächtigen Thronsaal aus kaltem Stein und hölzernen Gebälk, der von Fackellicht und Ofenfeuer beleuchtet war. Die wenig schmuckvolle Halle trug als Zierde Feldzeichen, Schilde und Wimpel aus dem Orkkrieg, eine erbeutete Waffe hier und dort und einfache (rondrianische) Kupferstiche, die Schlachten oder Kampfszenen zeigten. Vereinzelt ließ sich eine weibliche Hand erkennen, die dem bärbeißigen Ehemann zum Trotz ein Blumengesteck oder einen hellen Stoff auf den Holztafeln drapiert hatte. Im Eingang des Thronsaals warteten bereits Wolfhart und Emmeran, mit denen Liasanya einen freundschaftlichen Gruss und wenige Worte austauschen konnte, bevor sie gemeinsam dem Herzog vorgestellt wurden. Der hünenhafte, kräftige tala trug einen fellbesetzten Waffenrock und erinnerte Liasanya an einen polternden Bären. Das brummige Gesicht war von einem rauschenden Bart bedeckt, aus dem eine dicke Nase und freundliche blaue Augen heraus schauten. Mit donnernder Stimme begrüßte Waldemar seine Gäste und stellte die anderen anwesenden Personen vor. An einem Fenster stand verliebt, Hand in Hand, seine Tochter Walpurga von Weiden mit ihrem Gemahl Dietrad von Ehrenstein, dem Sohn des Herzogs von Tobrien, und somit möglicherweise Wolfharts zukünftiger Lehnsherr. Die blond gelockte Herzogin Yolina von Aralzin saß mit ihrer Magd an einem der Tische. Wolfharts Versuch einer standesgemäßen Anrede mit “Eurer Hoheit” wurde von Waldemar mit einem herzhaften Schulterklopfen seiner “Tatzen” und der bodenständigen Art hinweggefegt. Bei dem in Weiden traditionellen Begrüßungsmahl von Knoblauchbutter und Brot erkundigte sich Waldemar nach der Anreise und nach den Ereignissen in Dragenfeld. Wolfhart, der eine feine, mit seinem Wappen verzierte Augenklappe trug, offenbarte darauf angesprochen den befremdlich glitzernden Rubin, der sein Auge ersetzt hatte.

Nach einer Weile richtete sich der Herzog mit seinem eigentlichen Anliegen an die Eingeladenen. Nach den richtigen Worten suchend, begann er brummelnd, “Ihr seht einen Kämpen vor Euch, ich kann nicht lesen oder ein Tanzbein schwingen, und Hesindes Gaben sind in meinen Landen nicht das höchste Gut. Aber mit meinem Windsturm und meiner Herzogin an meiner Seite habe ich das Land immer gut regiert.”, dabei hob er den gewaltigen Zweihänder neben ihm an und blickte stolz zu Yolina herüber. “Es trägt sich etwas zu in Weiden, etwas Merkwürdiges.”, druckste er herum, “Ich meine, gebt mir einen Räuberbaron oder meinetwegen einen Orkenangriff, eine ehrliche, offene Auseinandersetzung schreckt mich nicht.” Mühsam, von geduldigen Fragen ermuntert, fuhr Waldemar fort, dass in Weiden seit dem Efferdmond das Namenlose umgeht und Leute verschwinden. Hier und dort ein halbes Dutzend, häufig in der Nacht, man ist nicht mehr sicher. Die letzten Berichte stammten aus Anderath und Baliho, also den südlichen Baronien Weidens. In Anderath in der Baronie Pandlaril, das dem Baron Arbolf von Gringelbaum-Weiden-Halburg-Binsböckel-Schrauffenfels unterstellt ist, berichtete ein Wirt von einem Fuhrknecht des Gorge Kohlebranders, der des Nachts aus dem Gasthaus verschwunden ist und andere Gäste des “Zum Alten Sünders” wollten gar Kampfeslärm gehört haben. Spuren von Orks oder Räubern hatte man allerdings vergeblich gesucht. Abgesetzt hatte der Fuhrknecht sich vermutlich nicht, stand doch der beladene Karren noch im Stall. Aus Baliho, das als Stadtmark dem Burggrafen Avon Nordfalk von Moosgrund untersteht, erreichten den Herzog Berichte, dass dort leichte Mädchen von der Straße verschwinden, während in Altnorden, also ebenfalls in der südlichen Grafschaft Baliho, Arbeiter von einer großen Baustelle betroffen seien. Der Norden Weidens, mit der Grafschaft Sichelwacht schien nicht betroffen, erreichten den Herzog von dort doch lediglich die üblichen Berichte von wilden Tieren und Räubern. Von der Herzogin erfuhr Wolfhart beim Abschied, dass der herzögliche Pass bis Auen gilt, das an der Reichsstraße zur Grenze nach Darpatien liegt und bei aller Verbundenheit der Reichserzmarschall Helme Haffax, Graf von Wehrheim, es nicht leiden wollte, das Agenten des Bärenthrons dort Erkundigungen einziehen.

Am nächsten Morgen mit Hereinbrechen der Morgendämmerung rüsteten sich Wolfhart, Emmeran und Liasanya im Zeughaus aus, einem düsteren, zweistöckigen Steinbau am Zehntplatz der Burg, das als Stall für Kleinvieh und Fuhrpark sowie als Rüst- und Waffenkammer des Herzogs diente. Allen wurde am Vorabend vom Herzog mehrfach wärmstens anempfohlen, sich auf den harten Winter in Weiden vorzubereiten, so dass Bärenfellmütze, Schneeschuhe, Wollschal, Ohrenwärmer, dicke Fäustlinge, Wintermantel und Hirschtalg ebenso zur Ausrüstung gehörten wie ein Siegelring des Herzogs, eine Karte des Herzogtums, ein zerfleddertes Exemplar der Gebete an des Tagesheiligen, ein Säckchen mit Hexenrunen aus Knöchelchen von Kleintieren, je einen versilberten Borndorn sowie schließlich je ein Beutelchen mit einem Achat, der Rabe und Schlange als Symbol zeigte. Ein solcher Siegelring, bemerkte Wolfhart kundig und wurde mit einem breiten Grinsen Emmerans belohnt, wies den Träger als direkten Unterstellten des jeweiligen Adligen aus und stellte ihn damit im Falle des Herzogs gleich einem Grafen oder Inquisitor des Mittelreichs. Der schnauzbärtige Kutscher Boril Bagoltin spannte im Hof eine Kaleschka an. Die bornländische Winterkutsche, unter deren Räder zusätzlich Kufen montiert waren und die mit dem Wappen Weidens sowie kleinen Glöckchen und Bändchen verziert war, wurde von drei Pferden, einem Schimmel und zweien mit rötlich-braunem Fell gezogen. Das Innere der geschlossenen Holzkutsche war geräumig genug für Wolfhart, Emmeran und Liasanya, vermutlich hätte ein Vierter ebenfalls Platz gefunden. Die Holzläden der Fenster und dicke Vorhänge versuchten vergeblich die Kälte draußen zu halten.

So begann die Fahrt ins winterliche Weiden auf der 1010 BF fertig gestellten Reichsstraße II von Trallop nach Süden. In Eichenau am Westufer des Pandlaril kehrten die Gefährten in einem der seltenen und erst kürzlich eröffneten Gasthäuser ein. Der Wirt hatte bisher nichts von Verschwundenen gehört, wie Emmeran erfuhr. Im nächsten Weiler, Wederath, erhielten die Reisenden eine nächtliche Unterkunft auf einem kleinen Viehhof entlang der Straße. Die Bauersfamilie, Algrid und Knorrhold Roderuh mit ihrer Tochter Isira, bemühten sich sehr die ungewöhnliche Reisegruppe traviagefällig zu bewirten. Die junge Tochter, vielleicht vierzehn Sommer alt, fasste ihren Mut zusammen und fing Liasanya ab, als diese zu Bett ging. Den Weidener Sinnspruch im Gedächtnis “Kommt ein Elf und grüßt er dich, dann sei wachsam, hüte dich. Halt dein Weib und halt dein Huhn, bring ihm Salz und Zucker nun. Frag um Rat und lache nicht, weißt doch nicht wie wahr er spricht.” bot Isira Salz und Zucker an und fragte, ob sie ihr Glück fände, wenn sie mit ihrem heimlichen Freund durchbrennt. Wie konnte sie ahnen, dass der Firnelfe Sippe und Geborgenheit im salasandra höchstes Gut war, und so eilte das Mädchen schluchzend auf ihr Zimmer, als sie die Antwort vernahm. Am nächsten Morgen musste Boril in seiner Trunkenheit vom Vorabend in der Scheune geweckt werden, wodurch sich die Weiterfahrt verzögerte.

Leichter Schneefall und fallende Temperaturen begleiteten die nächsten Stunden. Die schwachen Strahlen der Sonne vermochten so gerade noch den Raureif, der sich in den Morgenstunden gebildet hatte, vom Holz der Kutsche und den Wipfeln und Stämmen der Wälder, zu vertreiben. Liasanya lehnte mit einem Ellenbogen im Kutschfenster und atmete die frische, kühle Luft des Pandlaril und des Waldes ein. Sie sah wie Schnee und Frost das Land unerbittlich einhüllten, doch fühlte sie darunter wie das Land schlief und auf den Frühling wartete. Ungleich milder als der Winter in der firndra und ungleich lebendiger im Wechselspiel zwischen nurti und zerzal, freute sich die Firnelfe auf den Schnee und schaute zufrieden dem Spiel des Windes mit dem zarten, weißen Schleier zu.

In der Abenddämmerung desselben Tages hielt Boril die Kaleschka ohne den sonst üblichen Ruf an. Das zerschellte Wrack einer anderen Kutsche lag wenige Meter vom der Strasse entfernt im Wald. Ein Pferd war nicht zu sehen, das Geschirr vermutlich in Panik zerrissen. Im Schatten der Kutsche fanden die hinzugeeilten Gefährten einen grausam entstellten Leichnam, dessen Brustkasten weit aufgebrochen war und dessen Eingeweide herausgerissen waren. Unter dem leichten Schnee konnte Liasanya Spuren eines Kampfes erkennen, seltsam war nur, dass die Waffe des Toten keine Verwendung fand. Nachdem Boril, Emmeran und Wolfhart eine Weile betreten um den Leichnam herumstanden, wohl noch überlegend, was sie mit ihm machen sollen, und ob der Herr Boron bei Bodenfrost eventuell nachsichtiger ist, bestand Wolfhart darauf, die Leiche so gut es geht mit loser Erde und Schnee zuzudecken und ein Gebet zu sprechen. Die mittlerweile hereingebrochene Nacht veranlasste die Reisenden nicht weiter bis Anderath zu fahren, sondern einen Hof in der Nähe aufzusuchen. Dort begrüßte sie ein schlohweißer Mittsechziger mit einer gespannten, schweren Armbrust aus der soliden Tür des kleinen Wehrgehöfts. Nach dem Verweis auf den herzöglichen Auftrag und das entsprechende Wappen stellte sich der Hofherr als Anshag vor und hieß die Gruppe willkommen. Bei Speis und Trank erzählten Wolfhart und Emmeran von der Leiche und sinnierten, ob es ein Tier gäbe, dass solche Wunden reisst. Nach anstrengender Reise begaben sich alle zu Bett, Wolfhart in einem eigenen Zimmer, Emmeran und Liasanya teilten sich die Küche, während Boril im Stall bei den Pferden nächtigte.

Mitten in der Nacht schrak Wolfhart hoch mit dem Gefühl, dass dort etwas war. Kälte griff nach ihm und nur mühsam schüttelte Wolfhart die Müdigkeit ab. Es zog vom offenen Fenster her, die kalte Nachtluft machte ihm eine Gänsehaut. Jetzt gänzlich wach und sicher, dass das Fenster bei Zubettgehen garantiert geschlossen war, untersuchte Wolfhart den Fenstersims und fand Abdrücke von etwas, das wie nackte Hände und Füße aussah. Wolfhart ging durch das Haus und weckte zuerst Anshag, dann Liasanya und Emmeran, um ihnen von dem unheimlichen Vorfall zu erzählen. Er war nicht verletzt, aber der Schrecken war ihm anzumerken. Zur Sicherheit holten die drei Boril ins Haus und verbrachten den Rest der Nacht in der Küche. Nach dem Frühstück brachen die Gefährten auf, nicht ohne Anshag für die Unterbringung zu danken und ihm zur Vorsicht zu raten.