Der Dicke, der Bärtige, der Stämmige und der Brabbler
Am Morgen nach dem Schrecken der letzten Nacht diskutieren wir, was wir nun machen wollen. Dem ominösen Etwas, das mich letzte Nacht beobachtet hat, eine Falle stellen? Die Stelle mit dem verunglückten Wagen aufsuchen? In das nur zwei bis drei Stunden entfernte Anderath reisen, um Ermittlungen aufzunehmen? Wir entscheiden uns für letzteres. Wir reisen auf mein Drängen hin aber nicht direkt „Zum alten Sünder“, sondern zuerst zum Gut des Barons. Ich halte es für schwierig, ohne sein Wissen in seiner Baronie Ermittlungen vorzunehmen. Das Gut liegt ein wenig außerhalb. Wir werden schnell zu Arbolf von Pandlaril vorgelassen, einem dicklichen Mann mit fettigen Haaren. Nachdem ich uns vorstelle und unser Anliegen vorbringe, fragen wir ihn zu den verschiedenen Vorkommnissen aus, von denen wir wissen. Er hat nichts gegen unsere Nachforschungen und kann uns zumindest zu einigen der Sachverhalte etwas genauer Informationen geben. Von der Familie, von der wir gehört hatten, den Alfenburgs, sind Mutter und Sohn brutal ermordet aufgefunden worden, der Vater ist verschwunden. Emmerans auch uns neue Information, die Alfenburgs hätten drei Kinder gehabt, kann der Baron nicht bestätigen. Näheres zu diesem und dem Vorfall im „Sünder“ könnten wir aber beim Schulze in Anderath, Luipold Eschenfähr, erfahren. Der Baron äußert die Vermutung, Harpien hätten die Familie so zugerichtet. Während des Orkensturms hätte es in dieser Gegend viele gegeben und auch im letzten Sommer hätte Augenzeugen wiederholt Harpien gesichtet. Emmerans folgende frauenfeindliche Bemerkung überhören Liasanya und ich wohlweißlich.
Der Baron berichtet uns noch, dass ein horasischer Pferdehändler mit Namen Ilandro Darando den Körper eines Fuhrknechts des Gorge Kohlebranders in einem Nebenraum des „Sünders“ fand. Als der Wirt und einige Gäste sich in den Raum begeben hätten, so wurde ihm berichtet, waren zwar Blutspuren zu sehen, von der Leiche aber keine Spur. Da das Fenster offen stand, vermuteten einige der Anwesenden, dass der Fuhrmann gar noch am Leben sei.
Nachdem Emmeran und ich noch ein starkes Bier – Essen wird uns nicht angeboten – mit dem Baron nehmen, fahren wir zu Luipold Eschenfähr. Emmeran schafft es, den kleinen, bärtigen Mann für uns zu gewinnen: Er sei uns vom Baron als sein bester Mann anempfohlen worden. Nun solle er uns über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen. Leider reicht Emmerans Freundlichkeit noch nicht aus. Ich muss noch mein Unbehagen über Luipolds erste Antwort, die Ermittlungen seien abgeschlossen, zum Ausdruck bringen. Erst dann fängt er an, zu erzählen. Die Haustür des Bauernhauses der Alfenburgs war aufgerissen, im Inneren lagen Travegunde und Ditrath, Bäuerin und Sohn, als wären sie von Tieren zerfetzt worden übel zugerichtet auf dem Boden. Luipolds erste Vermutung, es wäre wohl ein Wolf gewesen, hält nicht lange Stand: neben Bissspuren berichtet er von Prügelspuren, die wohl kaum von einem Wolf stammen können. Den Bauern, Lein Alfenburg, suchte er vergebens. Die Tür zu dessen Zimmer war aufgebrochen, auch waren deutliche Kampfspuren zu erkennen, was nach deren Art erneut gegen die die These mit dem Wolf spricht. Der Mantel und das Pferd, selbst das Geld Leins waren noch vorhanden.
Mehr kann uns Luipold leider auch auf Nachfrage nicht berichten, so dass wir uns zum „Sünder“ aufmachen. Dort bestellen wir uns, da mittlerweile recht hungrig ein deftiges Mahl und ein weiteres Bier, vom dem Liasanya jedoch Abstand nimmt. Emmeran verwickelt den Wirt, einen stämmigen Mann namens Nolle Weyhentann, in ein Gespräch, in dem dieser uns ein wenig mehr zu den Vorkommnissen um den verschwundenen Fuhrmann berichtet. Dies geschieht in dem Zimmer, in dem der Mann verschwunden ist, da Nolle nicht im Schankraum darüber sprechen will. Das sei schlecht für’s Geschäft. Der Wagen des Fuhrmanns sei übrigens, so Nolle, von Trallop-Gorge bereits wieder abgeholt worden. Jedenfalls haben er und einige Gäste, als sie das im ersten Stock liegende Zimmer betraten, keine Leiche vorgefunden. Allein ein paar Blutspuren deuteten auf ein Gewaltverbrechen hin. Ob der Fuhrmann nicht einfach verschwunden ist, kann er nicht ausschließen, da ja das Fenster offen stand. Liasanya nimmt daraufhin Untersuchungen am Fensterrahmen und unterhalb des Fensters vor. Sie entdeckt Spuren wie von Klauen, schließt aber aus, dass ein Tier die Ursache dieser Spuren gewesen sei. Auch äußert sie die Vermutung, dass die Leiche aus dem Fenster geworfen und unten von jemandem schnell davon geschafft wurde.
Nachdem wir noch Proviant einkaufen, fahren wir zurück zum Hof von Anshag. Wir hegen die Hoffnung, dass sich der Vorfall von letzter Nacht in irgendeiner Weise wiederholt. Nach einer kurzen Diskussion entscheiden wir, dass ich wieder alleine Schlafe, die Tür zu meinem Zimmer aber offen bleibt und immer einer der anderen Wache hält. Während der zweiten Wache hört Emmeran, wie er mir später berichtet, ein Knacken am Fenster. Ein menschengroßes Lebewesen mit nacktem Oberkörper, vielen Harren im Gesicht und Lederhose klettert auf die Fensterbank. Das Wesen hat selbst im Dunkeln auffallend dünne Hände und Füße. Emmeran reagiert auf sein Auftauchen mit einem „Blitz Dich find“, der sein Ziel verfehlt und das Wesen aufschreckt. Daraufhin schlägt er Alarm, so dass wir anderen wach werden. Das Wesen ist deutlich zu schnell für uns, hinterlässt aber im Schnee Spuren, denen wir leicht durch den Wald bis zu einem Gehöft in süd-östlicher Richtung folgen können. Die Spuren führen zur Scheune des von einem Zaun umgebenen Areals. Liasanya schleicht vorsichtig um die Scheune und schließlich hinein, nachdem sie davon ausgeht, dass das Wesen sich noch in dem Gebäude aufhalten muss. Wir anderen folgen ihr. Es sind Geräusche vom Heuboden zu hören, jemand – oder etwas? – brabbelt vor sich hin. „Ich schau’ doch nur, ich mach’ doch nichts“ ist leise zu hören. Schließlich durchbricht Emmeran mit einem lauten „Gib dich zu erkennen“ die sich wiederholenden Wort von oben. Das Brabbeln hört schlagartig auf, wir alle harren in gespannter Erwartung aus.
Aus den Gedanken von
Wolfhart Raibridar von Horigan zu Welmshof,
Baron von Falkenberg, Ehrenbürger von Gratenfels,
Adept der Schule der Beherrschung zu Neersand