Der Magier, der aus der Kälte kam
Moosgrund, 24. Travia 1016 BF
Wir sitzen beim Frühstück mit dem Baron, als diesem eine Kladde gereicht wird, in der die Namen der bisherigen Todesfälle und die Daten der Berichte über das jeweilige Ableben aufgeführt sind:
- Perdan, Sohn des Müllers, 27. Rondra;
- Gerwulf Firunstann, außerhalb wohnhafter Weidsmann, 28. Rondra;
- Praiowein Niederegger, Fuhrknecht, sehr blutig zugerichtet aufgefunden, 26. Efferd;
- Helmtrude Blauhiller, ebenfalls am 26. Efferd, sie behauptete, etwas am Wachturm gesehen zu haben;
- Ulfgrimm, ein Tagelöhner und ehemaliger Soldat aus Greifenfurt, der am 27. Efferd mit deutlich zu erkennenden Waffenwunden aufgefunden wurde;
- Linje Fuchsbauer, die in der Nacht vom 26. auf den 27. Efferd in den Wald gelaufen ist.
Während Liasanya beim Studium der Daten erkennt, dass es sich – wie beim heutigen Tage – beim 28. Rondra und 26. Efferd jeweils um Neumondnächte handelte, fragt Emmeran den Baron danach, ob Urjel Hardering uns auf der wahrscheinlich dreitägigen Reise Gefolge leisten wird. Baron von Moosgrund meint, dies sollte kein Problem sein, solange unsere Anweisungen nicht im expliziten Widerspruch zu seinem Glaubenskodex ständen.
Als wir aus dem Gasthaus treten, darüber sinnierend, ob wir nicht vielleicht doch besser die Reise verschieben, da nun eine Neumondnacht ansteht – ein Gedanke, den ich, nachdem mir meine Freunde in neckender Weise die Anführerrolle zugeschustert haben und ich entscheiden soll, beiseite schiebe –, treffen wir auf Urjel Hardering, der auf einem prächtigen Streitross sitzend auf uns wartet.
Auf dem Weg zum in den Untersuchungen erwähnten Wachturm werden wir von den beiden anderen Kindern der Fuchsbaums, Jann und Praida, angehalten. In der folgenden Unterredung zeigt sich Cordovan von seiner besonders pädagogisch-feinfühligen Seite, als er den beiden deutlich sagt, dass sie nicht damit rechnen könnten, dass ihre Schwester noch lebte. Immerhin ringt er sich zu dem Versprechen durch, dass wir sie aufsuchen, wenn wir zurück im Städtchen sind.
Die kurze Suche, die Rashid am Turm unternimmt, bleibt ereignislos, so dass wir uns schnell auf die anstehende Reise in klirrender Kälte begeben. Nach eineinhalb Stunden treffen wir auf der Straße eine taumelnde Gestalt in bunten Kleidern mit Turban, die uns halb erfroren entgegen taumelt. Sie kann sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, indem sie sich auf einen Magierstab stützt. Rashid beginnt mit ihm ein Gespräch auf Tulamidisch, dem ich wegen meiner immer noch recht beschränkten Kenntnisse nicht folgen kann. Ich erkenne aber, dass es sich um einen Magier der Pentagrammakademie zu Rashdul handelt, einer Schule der Beschwörung, die sich auch mit schwärzester Magie beschäftigt. Was außerdem unschwer zu erkennen ist ist, dass sich der Fremde nicht mehr lange am Leben halten wird. Wir holen ihn in unseren Wagen, wo wir erkennen, dass er schwere Unterkühlungen und Frostbeulen hat. Er ist wahrscheinlich um die 60 Jahre alt, jedoch ist das bei seinem Zustand nicht klar auszumachen. Wir beschließen, die kurze Strecke zurückzureisen, da wir ihm sonst keine Chance aufs Überleben geben können.
Während ich den Fremden heile, widmet sich Rashid seiner Tasche. Neben allerhand Krimskrams, den ein Gelehrter so mit sich führt, sowie einem Geldbeutel, der sofort Rashids und Emmerans Aufmerksamkeit auf sich zieht, befinden sich in der Tasche ein Exemplar des „Großen Buchs der Abschwörung“ sowie drei Bögen Papier mit Berechnungen. Bei den Berechnungen handelt es sich um astronomische Ausführungen, bei denen auch der Neumond eine Rolle spielt. Weiteres bleibt mir aber verborgen. Auch wenn ich Tulamidisch nicht gut lesen kann, erkenne ich, dass es sich um ein außerordentlich präzises und umfassendes Exemplar des „Großen Buchs der Abschwörung“ handelt. Beim Blättern, der Fremde ist mittlerweile eingeschlafen, fällt ein Zettel aus dem Buch, den ich erst leise und dann, als ich von seinem Inhalt in den Bann gezogen werde, den anderen laut vorlese.
“Dies ist die Kunde von den Zeiten, wenn sich das Angesicht der Welt wandeln wird.
Wenn die Echse einen Kristall verliert, wird sich die Kunde verbreiten von SEINER künftigen Macht, und SEIN Freund stirbt oder wird leben.
Wenn der Sohn des schwarzen Vogels von der Tochter der Schlange vernichtet wird, erhebt sich wieder ein strahlendes Tuch, und der Inhaber des Tuches wird sein der dritte des Namens.
Wenn der Kalif aus Borons Schoß ins Goldene Land gejagt wird, werden die Heerscharen des Blutgottes ins Herz des goldenen Vogels stoßen, und ein Sohn des Fuchses wird den Namen seines Onkels und seiner Tante tragen.
Wenn der Tod im Toten beschworen wird, werden sich auftun die Sphären, und es wird sein ein Klagen und Jammern unter den Zauberern und Nichtzauberern und den strahlenden Strahlenden.
Dann wird kommen der Erste der Sieben Boten und seine Nachricht wird sein der almadine Stein und das Wissen SEINES Namens.”
Neben dem Text sind in schwungvollen tulamidischen Zeichen die folgenden Anmerkungen zu lesen: “Grausige Übersetzung einer Abschrift… Legionen des Blutgottes im Herz des Greifen, der Erleuchtete… Wo ist der Tote?”.
Nachdem der Fremde, der sich als Dschelef ibn Jassafer zu erkennen gibt, wieder zu sich kommt, stürzen sich Emmeran und ich begierig mit Fragen auf ihn. Er sei auf der Suche nach Liscom von Fasar, aus dem er etwas herauszwingen wolle, außerdem suche er den Träger des Auges. Auch Dragenfeld wird von ihm erwähnt. Daraufhin gibt Emmeran uns recht deutlich zu erkennen, ich zögere aber noch, ihm mein Auge zu zeigen.
Nachdem ich den Rest der Rückreise mit dem Studium des Buches verbringe, erreichen wir den Traviatempel. Dort geben wir Dschelef in die Obhut des Geweihten Bärfried, der gleich zur Burg nach Irmengund schicken lassen will, die ihm bei der Heilung behilflich sein soll.
Während Liasanya, der Baron und Irmengund im Traviatempel weilen erklärt mir Rashid auf der Burg kurz, wer Liscom ist. Er war Vizeleiter der Akademie der geistigen Kraft zu Fasar. Der spätere Leiter Thomeg Atherion muss ihn in einem Duell gedemütigt haben. Leider kann ich den blumigen Ausführungen nicht weiter folgen, denn der Baron und die anderen beiden kommen zurück. Den Abend verbringen Emmeran und Cordovan in dem gegenüber früheren Abenden deutlich leererem Gasthof – der Bitte, seine Untertanen davon abzuhalten, heute auch nur jeden kleinen der wegen der klirrenden Kälte sowieso schon wenigen Gänge vorzunehmen, hat der Baron offensichtlich entsprochen. Rashid und ich gehen ob der Strapazen des Tages schon früh schlafen.
Moosgrund, 25. Travia 1016 BF
Am nächsten Morgen erfahren wir, dass ein Wachtrupp in der Nacht verschwunden ist. Ich will sofort zum Tempel, wo ich entgegen des Rats von Bärfried Dschelef aufwecke. Ich zeige ihm mein Auge, was in seinen schwachen Augen ein kurzes Leuchten hervorruft. Ich bitte ihn, sich nun zu erholen und auf uns zu warten, sollten wir länger brauchen. Als ich daraufhin den Raum verlasse, höre ich in einer schwachen Stimme einen tulamidischen Satz: „So beginnt es also, das Auge hat sich offenbart“.