Altnorden
“All the world’s a stage, and all the men and women merely players.”
- Emmeran (Shakespeare’s As You Like It)
Die Tage nach unserer Abreise von Gut Hardering vergehen wie im Fluge. In Moosgrund berichten wir dem Baron und trennen uns von Urjel, mit dem Cordovan noch ein versöhnliches Gespräch führt. Wolfhart nutzt die Gelegenheit zu einer weiteren Unterredung mit Dschelef ibn Jassafar, dessen Genesung zwar Fortschritte macht, der sich jedoch noch eine Weile ausruhen muss und uns bittet, ihn in Moosgrund wieder aufzusuchen, wenn wir unsere Aufgabe abgeschlossen haben. Er wird sich derweil intensiv dem Studium der Sternenkonstellationen widmen. Ich nutze die Gelegenheit, mich mit Wolfhart zu versöhnen, bei dem ich mich für meine Eigenmächtigkeit entschuldige. Rashid und Cordovan scheinen an der Aufrichtigkeit meiner Entschuldigung zu zweifeln, wenn ich ihre Blicke richtig deute. Nun ja, auch wenn ich noch immer von der Richtigkeit meines Handelns überzeugt bin und im Zweifel die gleiche Entscheidung wieder treffen würde, liegt mir doch daran, den Frieden in unserer Gruppe wiederherzustellen. Wolfharts Stimmung hebt sich jedenfalls gewaltig und er lässt sogleich nagelneue Pelzkappen für alle anfertigen, die zusätzlich mit zwölfgöttlichen Symbolen oder dem Zeichen seiner Baronie geschmückt sind. Wir sind uns schnell einig, dass wir dem letzten konkreten Hinweis auf einen Vampir in Altnorden nachgehen wollen, auch wenn ich noch einmal versuche, die Acheburg ins Gespräch zu bringen. Immerhin: Liasanya scheint etwas in meiner Geschichte vom armen Bäuerlein zu sehen, und macht sich auf eigene Faust auf, die Acheburg einmal zu erforschen.
Auf dem Weg nach Altnorden erreichen wir am 08. Boron eine Wegstation, wo wir für die Nacht einkehren. Während Boril noch die Kutsche und die Pferde unterstellt, fordert Wolfhart bereits im Namen des Herzogs die besten Zimmer und eine warme Mahlzeit. Als wir wenig später bei einer warmen Suppe in der leidlich gefüllten Schankstube sitzen, fällt uns am Nebentisch ein seltsamer Gast auf. Der Mann ist groß und hager, und seine Haare stehen wirr vom Kopf ab. Unter einen schäbig wirkenden Pelzmantel blitzt jedoch eine Brokatrobe mit goldenen Verzierungen auf, in der Wolfhart die Tracht eines Praios-Hochgeweihten zu erkennen glaubt. Als er ihn daraufhin anspricht, zeigt sich, dass der Mann stark angetrunken ist. Er interessiert sich nur für den Nachschub an Bärentod, nicht aber für Wolfharts Versuche, ihn auszufragen. Stattdessen äußert er sich lästerlich und behauptet, dass Praios sich nicht um die Sorgen und Wünsche der Menschen kümmere. Das ist mal eine Erkenntnis! Es wird noch besser. „Die Praiosgeweihten sind Beutelschneider – wer braucht schon Geweihte?“, brüllt er durch die Schankstube, während Wolfhart ihn noch immer nach seinen Erlebnissen befragt. Die Lästereien sind irgendwann zu viel für Cordovan, der zwar um Beherrschung ringt, sich jedoch nicht zu bremsen vermag. Er springt auf, bugsiert den wehrlosen Mann mit Gewalt auf dessen Zimmer und schlägt ihn dort windelweich, bis er bewusstlos zu Boden sinkt. Als Cordovan zurückkehrt, ist Wolfhart bereits damit beschäftigt, eine stämmige Fuhrfrau zu umgarnen. Wahrscheinlich muss er seinen Frust loswerden, doch etwas mehr Geschmack hätte ich schon zugetraut.
Am nächsten Morgen sitzen wir beim Frühstück, als der von Cordovans Schlägen heftig gezeichnete Mann in der Wirtsstube erscheint. Wir erfahren von ihm, dass sein Name Patras ist, und dass er der Hochgeweihte eines Praios Tempels im Svelltschen Gashok ist. Wieder behauptet er, dass Praios sich nicht für die Belange der Menschen interessiere. Cordovan zwingt ihn zu einer Aussprache und fordert die Robe und die Insignien des Hochgeweihten ein, dafür will er ihm neue Kleider kaufen. Er droht ihm schließlich Gewalt an und deutet an, zur Not werde er den Mann eben fälschlich als Hochstapler denunzieren. Der Mann hat jedoch Mut und ein Gespür für eine dramatische Wendung. Wieder hebt er seine Stimme, so dass alle Anwesenden ihn hören und brüllt: „Wenn ich kein Praiosgeweihter bin, soll mich jetzt und hier die Sonne verbrennen.“ Cordovan befiehlt daraufhin dem Mann im Namen des Praios, die Zeichen seines Amtes abzulegen. Natürlich weigert der sich weiter. Auch wenn ich Cordovans religiösen Eifer bereits kenne und mir seinen Zorn vorstellen kann, das hätte er sich wohl denken können. Wie kommt er wohl darauf, jetzt plötzlich im Namen aller zwölf Götter sprechen zu wollen. Und überhaupt: Mit welchem Recht behandelt er den Mann auf diese Weise? Wenn der an seinem Gott zweifelt, ist es doch wohl nicht an uns, das zu beurteilen. Und so ganz falsch liegt er ja nicht, wenn er sagt, dass die Praioskirche sich nicht gerade durch Anständigkeit und ihre Liebe zum einfachen Volk auszeichnet. Aber das sage ich Cordovan besser nicht.
Wie auf ein Stichwort öffnet sich die Tür und ein weiterer Geweihter betritt den Raum. Der Bruder des Ordens der Heiligen Hüter sammelt im Namen des Praios Spenden für den Wiederaufbau des Klosters Arras de Mott, das 1012 von den Orks erstürmt und erst letztes Jahr durch Oberst von Blautann zurückerobert wurde. Patras greift nach einer Flasche, um den Bruder zu attackieren, woraufhin eine wüste Prügelei ausbricht, in der alle meine Gefährten helfen, den Hochgeweihten zu Boden zu ringen und nach draußen zu befördern. Wieder verliert Cordovan die Kontrolle: Er stürmt nach draußen, wo er mit einem Messer auf den hilflosen Patras eindringt und ihm die Robe vom Leib schneidet. Schließlich entwendet er noch die Kette des von Rashid immer noch gehaltenen Mannes und lässt ihn dann halbnackt im Schnee zurück. Drinnen erklärt der Ordensbruder, er könne keine Verantwortung für seinen Glaubensbruder übernehmen, sondern müsse sich ganz seiner Aufgabe widmen. Diese besteht darin, den armen Bauern und Fuhrleuten das Geld aus der Tasche zu locken, damit das Kloster wieder aufgebaut werden kann. Sollten dafür nicht die Herzöge, Barone und Ritter auch mal zur Kasse gebeten werden? Wieder zeigt sich für mich, wie rücksichtslos die Geweihten der Zwölfe ihre ureigensten Interessen durchsetzen und wie wenig sie sich dabei um alle anderen scheren, immer davon beseelt, allein das Recht auf ihrer Seite zu haben. Na ja, wenigstens zerfleischen sie sich hier gegenseitig, aber dennoch bin ich durch das Verhalten meiner Freunde und besonders Cordovans zutiefst verstört und beschämt.
Wir erreichen Altnorden am Nachmittag des 09. Boron. Das Dorf mit vielleicht 700 Einwohnern liegt am Altnordener Weiher, durch den der Fluss Rotwasser fließt. Der Ort ist mit Erdwällen geschützt, soll jedoch durch eine steinerne Stadtmauer verstärkt werden. Es gibt verschiedene Gasthäuser und Schenken und sogar einen Borontempel entdecken wir aus dem Kutschfenster heraus. Für die Gesandten des Herzogs ist natürlich nur das beste Haus am Platz gut genug, also beziehen wir im Hotel Altnorden Quartier, wo wir zuerst ein warmes Bad nehmen. Cordovan denkt praktisch und besucht die Großbaustelle zum Bau der Stadtmauer, wo er dem Vogt Bervis von Dunkelstein begegnet und sich mit diesem fürs Abendessen verabredet.
Auf die Vorfälle in seiner Stadt angesprochen, berichtet der Vogt, dass einige Arbeiter verschwunden sind. Er erinnert sich insgesamt an sechs Arbeiter, die im Abstand von einigen Wochen getürmt sind. Er vermutet, sie sind vor der harten Arbeit weggelaufen, da an der Baustelle Tag und Nacht in Schichten gearbeitet wird. Er versichert uns seine Unterstützung und verspricht, am nächsten Tag eine Aufstellung mit allen Verschwundenen zu präsentieren.
Ein weiterer Zufall sorgt für etwas Ablenkung: Einer der Gäste im Hotel ist der uns aus Baliho bekannte Reo Sapallyo, der sich zu uns setzt und begierig Neuigkeiten mit uns austauscht. Er erklärt auf der Durchreise zu sein und kündigt an, seine Geschäfte nach dem Winter vielleicht in Gareth fortsetzen zu wollen. Als wir nach den lokalen Neuigkeiten fragen, gibt er uns einen interessanten Hinweis: Ihm ist aufgefallen, dass der Baron von Menzheim, der im Sommer regelmäßig in Altnorden war und zusammen mit dem Vogt den Fortgang der Bauarbeiten beobachtet hat, seit einigen Wochen nicht mehr erschienen ist. Danach sollten wir uns sicher erkundigen, wenn wir Bervis morgen wieder treffen. Ich bin gespannt, was wir morgen finden, wenn wir nach einem Vampir suchen …