Das Auge des Betrachters

09. Rondra 1016 BF

Wir treffen uns am späten Vormittag und sprechen über den Stand der Dinge. Emmeran und ich halten im Gegensatz zu Cordovan de Mott ernsthaft für einen der Verdächtigen, was die Vorfälle der letzten Tage angeht. Er muss ja nicht selber zum Mörder geworden sein, aber dass er vielleicht seine schützende Hand über den oder die Saboteure und Mörder hält, können wir uns vorstellen. Wir haben jedoch keine Idee, wie wir dieser Vermutung unauffällig nachgehen können. Im Großen und Ganzen haben wir wohl drei Spuren. Auf eine haben wir keinen Einfluss, weil wir die Arbeit in der Bibliothek nicht vorantreiben können. Bleiben die Kraftlinien, die ich gesehen habe, sowie die Krypta, auf die Emmeran wiederholt hinweist. Als Emmeran vorschlägt, dass er sich die Krypta mal genauer ansehen könnte und dabei natürlich einen nicht-offiziellen Zugangsweg ins Auge fasst, verlässt Cordovan wutschnaubend den Raum.

Wir anderen beiden legen uns nun endlich schlaffen, auch Cordovan stößt, nachdem er sich ein wenig die Füße vertreten und den Gefangenen im Kerker aufgesucht hat, dazu. Erst zur Abendmesse stehen wir auf. Während wir speisen kommt Bruder Ucurius, der Medikus, an unseren Tisch. Zwei Maurer sowie der Gefangene leiden am blutigen Rotz, einer ansteckenden, manchmal die blaue Keuche nach sich ziehenden Krankheit. Auf Nachfrage bestätigt Ucurius, dass es sich bei den Maurern um die beiden handelt, die ihrer Wache in der letzten Nacht nicht nachgekommen sind – somit sind alle drei am letzten Mord indirekt Beteiligten am blutigen Rotz erkrankt. Ich schlage Ucurius abschließend vor, den Gefangenen zu verlagern, damit sich seine Krankheit nicht im kalten Kerkergemäuer verschlimmert.

Während des Gesprächs bemerken wir, dass wir beäugt werden. Cordovan verlässt ohne etwas zu sagen unseren Tisch, um sich zu Hüter Bormund und Hüter Regiardon zu setzen. Regiardon, der Botanikus, teilt ihm besorgt mit, dass einige Kräuter in den letzten Tagen enormem Wachstum unterlegen sind, was Cordovan an die übernatürliche Pflanzenveränderung in der Wüstenei erinnert. Er kommt zu uns und wir diskutieren, ob vielleicht bereits ein Borbarad-Ritual im Gange ist. Sofort brechen wir zu de Mott auf, da wir dringend wissen müssen, an welchem Datum dieses Ritual wohl abgeschlossen ist – eine Information, die wir uns von den Studien des Bibliothekars erhoffen. Wie der Zufall es will, kommen die beiden gerade jetzt, um ihre Speise einzunehmen. Quanion bestätigt, dass die beschriebene Sternenkonstellation nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Ob es allerdings Tage oder Wochen sind, über die wir hier reden, weiß er nicht. Während de Mott über die unzureichende Ausstattung der Bibliothek und die Fertigstellung des Tempels reden will, unterbricht ihn ausgerechnet Cordovan forsch. Emmeran nutzt diese unverhoffte Intervention, um de Mott deutlich zu machen, das wir über Wochen nicht reden müssen, und zwar in einem Ton, den sich de Mott sofort verbietet.

Cordovan und ich springen im Punkt – nicht jedoch im Ton – Emmeran zur Seite. Als de Mott sagt, dass die Rufe nach der Inquisition schon lauter würden und daher weitere Unruhe unerwünscht sei, wirft Cordovan ein geradezu provozierendes „ruft sie!“ ein. De Mott sieht es jedoch als seine Aufgabe, gerade in den Zeiten der Not für Zusammenhalt zu sorgen und für die zwölfgöttliche Ordnung einzustehen. Dass wir hier nicht weiter kommen, ist offensichtlich, weswegen wir gehen, nicht ohne noch einmal deutlich zur Eile zu mahnen. Aber das ist wohl ein einsames Rufen im Walde. Mich überkommen ob der Haltung des Klostervorstehers deutlich Zweifel, dass wir hier einfach so weiter machen können wie bisher. Nicht, dass ich mich nicht an seine Gebote halten will. Nein, die vielen Unschuldigen, die, wenn alles wie absehbar verläuft, bald zu beklagen sein werden, machen mir Sorgen. Können wir wirklich nichts sagen, obwohl wir eigentlich wissen, was passieren wird? Borbarad oder einer seiner Handlanger werden hier auftauchen und für Tod und Verderben sorgen. Das haben wir bereits erlebt und wir werden es wohl wieder erleben. Schließlich deuten alle Geschehnisse der letzten Tage und Wochen darauf hin. Das darf man nicht ignorieren und für sich behalten. Wer Menschen einfach in ihr Verderben laufen lässt, der macht sich schuldig, wenn er nicht einmal den Versuch unternimmt, es zu verhindern. Ich spreche mit meinen beiden Freunden über diese Gedanken. Weiter kommen wir aber noch nicht, weil wir nicht wissen, was genau jetzt das Beste wäre zu tun. Aber lange können wir nicht mehr so weiter machen.

Emmeran und ich verlassen das Kloster. Ich will versuchen, die Kraftlinien weiter zu verfolgen. Nachdem wir eine knappe Viertelstunde vom Lager der Handwerker aus in das Tal, in dem sich das Kloster befindet, gegangen sind, zaubere ich einen Odem, den Zauber, mit dem ich bisher die Kraft meines Rubinauges geweckt habe. Emmeran bemerkt sofort, dass sich etwas verändert, mein Auge fängt wohl an zu leuchten. Mich überkommt leichter Schwindel, ich muss die Augen schließen, um wieder zu klaren Gedanken zu kommen. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich die Welt in ihrer Kraftstruktur, so, als hätte ich die volle Kraft eines Odem und eines Analysis parat. Eher zufällig erkenne ich zum ersten Mal die Kraft, die in Emmeran schlummert. Mir geht es aber natürlich nicht um ihn, weswegen ich meine Augen schnell in die Ferne richte. Aus Nordnordost strömt eine starke Kraftlinie Richtung Südwest ins Tal, eine andere aus Südwesten, die Richtung Osten fließt. Die erste Linie wird dominiert von Verständigungsmagie, die andere bündelt Kräfte des Elementaren.

Beide Linien treffen beim Kloster aufeinander, das für mich wie in gleißende magische Kraft gehüllt aussieht. Ich versuche, auf das Kloster zuzugehen, um zu erkennen, ob die Linien sich im oder unter dem Kloster treffen. Jedoch wird mir das Gehen schwer, nun, wo ich die Welt im wahrsten Sinne durch ein anderes Auge sehe. Emmeran stützt mich, jedoch kann auch er nicht verhindern, dass ich irgendwann von der magischen Kraft überwältigt und ausgelaugt zusammensacke. Erst im Kloster komme ich zu mir. Emmeran muss mich bis hierher getragen haben. Dass er und Cordovan tuscheln, während ich noch geschwächt auf meinem Lager liege, finde ich merkwürdig. Was haben sie zu besprechen, was ich nicht hören soll? Ist etwas im Lager vorgefallen? Sehen sie in mir eine Gefahr? Ich stehe auf, um zu zeigen, dass ich wieder bei Kräften bin. Jedoch lässt mein Misstrauen erst als ich meinen Stab wieder in der Hand halte nach. Vielleicht macht dieses Auge mich notgedrungen auch bei meinen Freunden zu einem Ausgegrenzten, zu einem, der wirklich anders ist und bei dem man ob seiner Kräfte vorsichtig sein muss. Ich werde schauen, inwiefern sie ihr Verhalten mir gegenüber weiter verändern. Vielleicht ist es auch nur die Gefahr, die uns bevorsteht, die uns alle ein wenig angespannt sein lässt.

Bis zum Abend ist alles ruhig, was jedoch nichts heißen muss, da meist erst die Nacht Neues mit sich bringt. So ist es auch dieses Mal. Ich höre etwas aus der Kapelle. Als ich eintrete, sehe ich den Novizen Efferdin etwas an die Wand pinseln. Mein „Was macht ihr da?“ schreckt ihn auf. Vollkommen benommen tritt der Novize zurück und macht den Blick auf die Wand frei. In großen Lettern prangt dort „Die Götter zürnen ob Eurer Frevel, flieht, bevor der Tod Euch ereilt“. Während ich voranschreite schlägt draußen jemand Alarm. Es ist Emmeran, der den Novizen auch bemerkt hat. Schnell kommt es zu einem Auflauf, den de Mott nur mit Mühe wieder auflösen kann. Mit Emmeran, Cordovan, Serkia und Bormund betritt er die Kapelle.

Zwischen Bormund und Efferdin kommt es zu einem Gerangel, das Cordovan dadurch befriedet, dass er mit elfengleicher Leichtigkeit auf der den Boden bedeckenden Farbe ausrutscht und auf den armen Efferdin plumpst, was Emmeran mit schallendem Gelächter quittiert. Ich bin beinahe froh, dass er es ist, der so losprustet, denn auch ich kann mich nur schwer beherrschen – was nun aber niemand mitbekommt. Efferdin kommt anscheinend durch die ihn zu Boden niederschmetternde Kraft Cordovans zu sich. Er kann sich an nichts erinnern, was ihm de Mott nicht sofort glauben will. De Mott bittet Cordovan, den Novizen in den Kerker zu bringen, wo dieser morgen wohl einer genauere Befragung unterzogen wird. Jetzt will de Mott erst einmal Ruhe.

Dieser Wunsch wird ihm diese Nacht nicht erfüllt werden. Kaum sind wir wieder auf dem Posten, bemerke ich Bewegungen an verschiedenen Seiten der Klostermauern, an einer Stelle sogar im Kloster. Ich höre schnelle Gehbewegungen. Fraglos, wir werden angegriffen, das Kloster wird von Orks überrannt! Ich schlage Alarm, der jedoch beinahe zu spät kommt. Als ich im Innenhof ankomme, sehe ich die schaurigen Kreaturen über alles und jeden herfallen, der sich bewegt – so auch Emmeran, der ins Dormatorium flieht. Auch ich werde angegriffen, schon einer der ersten Schläge versetzt mir eine tiefe Wunde. Noch folge ich dem Zauberverbot de Motts. Wie lange ich das noch kann, weiß ich jedoch nicht. Diese Nacht, so ist schon jetzt klar, wird viele Opfer finden.