Willst Du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht
Kloster Arras de Mott, den 9. Rondra 1016 BF
Da es offensichtlich keinen Sinn ergibt, weiterhin mit de Mott über die Harpyen zu sprechen, lege ich mich wie Emmeran schlafen. Allein der meist pflichtbewusste Cordovan hält Nachtwache.
Am Morgen suchen wir das Gespräch mit de Mott. Er beschwichtigt: Harpyen gibt es hier in der Gegend und da eine Jagd sowieso keine Aussicht auf Erfolg habe, sollte man das Ganze doch auf sich beruhen lassen, anstatt hier weiter Unruhe zu stiften. Den wiederholten Hinweis, dass wir diese Harpyen kennen und sie den Weg von weit her aus Moosgrund zum Kloster gefunden haben, nutzt de Mott nur zu bissigen Bemerkungen zu unserem Umgang. Ich mache deutlich, dass er sich die Fertigstellung des Klosters abschminken kann, wenn er nicht mehr auf Sicherheit setzt – eigentlich gebe ich ihm zu verstehen, dass er auch bei erhöhter Sicherheit meiner Ansicht nach nicht davon ausgehen sollte, dass das Kloster halbwegs zeitig wieder aufgebaut ist und eine Evakuierung sicherlich besser ist, da so viele Menschenleben gerettet würden. Nachdem der hohe Lehrmeister mich einen Schwarzseher schilt, kann ich ihm nur noch das vage Versprechen entlocken, noch einmal mit Hüter Quanion darüber zu sprechen, ob ich nicht doch mal ein helfendes Auge auf seine Untersuchung werfen dürfte. Emmeran spricht daraufhin die bei den Orks gefundene Karte an. Der dazu gestoßene Jandrim sichert zu, dass wir diese ausgehändigt bekommen, sobald er wieder im Lager ist.
Nachdem ich mich noch einmal hingelegt habe, gehen wir gegen Mittag ins Lager und schauen auf die dann doch recht enttäuschende Karte. Sie verzeichnet grob, wo sich in den Bergen Harpyen, Wölfe oder Orks befinden. Arras de Mott ist ebenso verzeichnet wie eine „Goldspitze“. Ansonsten sieht es mehr danach aus, als habe sie ihr ursprünglicher Besitzer – wir vermuten, dass es sich um den verschwundenen Magier handeln könnte – genutzt, um bei seinem Weg von Greifenfurt nach Norden nicht den halbwegs gut zu erkennenden Weg durch die Berge zu verlieren. Nachdem Emmeran und Cordovan die Idee eines sicherlich interessant zu beobachtenden gemeinsamen Fluges auf Emmerans Spieß zu den Goblins leider verwerfen, gehen wir zurück zum Kloster. Cordovan begibt sich in den Kerker und schlägt hinter dem umgeschichteten Holz den Putz von der Wand. Dort entdeckt er, dass vereinzelt Steine mit Zeichen wie denen im Keller des Bergfrieds zu finden sind. Ich untersuche währenddessen kurz mit einem Odem die Novizin Serkia, aber auch sie hat keine magische Kraft in sich wohnen. Der Kreis derer, die dafür in Frage kommen, wird stetig kleiner. Wahrscheinlich sind wir, was das angeht, auf der falschen Fährte.
Abends konfrontiere ich ungeduldig den von Hüter Bormund begleiteten Nicolas de Mott beim Essen. Wegen der Bibliothek hat er natürlich nicht gefragt, was ich ihm dann auch vorhalte. Als er mit weiteren Ausflüchten kommt, lasse ich mich über Borbarad aus, da dieser hinter all dem hier stecke – einen anderen Schluss lassen unsere Hinweise gepaart mit unserer Erfahrung nicht zu. Bormund steht auf, um nicht, wie er es sagt, wegen der Schauermärchen über einen toten Magier platzen zu müssen. Allen außer den armen Novizen, die das Refektorium säubern, hätte er einen großen Gefallen getan, wäre er einfach sitzen geblieben. De Mott, Bormund und ich müssen etwas lauter geworden sein, denn an einigen Tischen wird über den Namen Borbarad getuschelt. Emmeran nutzt die Chance, endlich wieder Geschichten erzählen zu können: von Borbarad, von der Wüstenei und auch von mir. Ich höre das beim Verlassen des Speisesaals nur noch mit einem Ohr, befürchte aber, dass die Geschichte über mich mehr furcht- als respekteinflößend ist – hoffentlich habe ich nicht bald einen Praiosdolch zwischen den Rippen stecken. Von draußen höre ich, wie Jandrim Emmeran anfaucht, er möge doch diese Geschichte von Borbarad für sich behalten, das seien doch alles Märchen, um Kindern Angst zu machen.
Des Nachts kommen die Harpyen wieder, die wir allerdings großmütig ignorieren, da wir Besseres vorhaben – wir wollen das Grab von Arras de Mott untersuchen! Vorher gehen wir aber alle Räume ab, um zu schauen, ob auch jeder schläft. Auf diese Idee hätten wir mal vor Wochen kommen sollen, als nachts noch gemordet wurde. Naja.
Cordovan öffnet die Krypta. Wir gehen zum Sarkophag de Motts, auf dem geschrieben steht:
Hier ruht Arras de Mott, sein Name sei des Rechtschaffenen Erbauung, des Unwissenden Ermahnung und der Gezeichneten strahlender Fingerzeig, wenn dereinst das Licht der Finsternis weicht.
Der Spruch findet sich in 3. Offenb. d. S. 98 – womit ein nicht öffentliches heiliges Buch der Praioskirche mit dem Titel „Offenbarung der Sonne. Gespräche mit dem Götterboten“ gemeint ist, das de Mott verfasst hat.
Cordovan entdeckt hier unten ebenfalls Steine, wie er sie gerade erst im Kerker gefunden hat. Bevor ich beginne, den Sarg zu untersuchen, bittet Cordovan mich zum Gebet und Emmeran darum, Abstand zu halten. Cordovan verliert sich ein wenig im Gebet, jedenfalls kommt es mir und vor allem dem hinterm Gitter wartenden Emmeran wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Cordovan sein Gebet beendet. Er hat anscheinend tief reflektiert, denn nun wartet er mit dem Wissen auf, dass de Mott den Zeitpunkt seines Todes kannte, was eine nur sehr selten von Boron gewährte Einsicht ist. Dies macht es natürlich sehr wahrscheinlich, dass de Mott den Spruch auf seinem Sarkophag bestimmt hat.
Ein erster Odem auf das Grab bringt leider keine Erkenntnis, ein zweiter in der Krypta mir jedoch ein nie dagewesenes Erlebnis. Mein Blick färbt sich rötlich. Ich stehe mitten in beiden Kraftlinien, die durch das Kloster laufen. Ich kann kaum etwas erkennen, so gleißend ist das Licht. Es kommt mir vor, als würde ich hier, im dunklen Keller eines Praiosklosters, direkt in die Sonne schauen – welch eine Ironie.
Ich suche nach den Steinen, die Cordovan gefunden hat. Vor meinem Rubinauge verformen sich die Zeichen auf den Steinen, ich erkenne ein Muster. Ich kann es zumindest so „deuten“, dass ich merke, dass ich am richtigen Ort zur falschen Zeit bin. Ich müsste hier zu Voll- oder Neumond sein. Woher ich das weiß, weiß ich nicht. Es ist vielmehr auch ein Gefühl, dass mir durch das Auge vermittelt wird, als ein Wissen, dass ich erlange.
Da ich Dinge sehe, die ich sonst nie sehe, und ungekannte Kräfte fühle, muss ich einfach versuchen, wie Magie hier wirkt, während ich die Kraftlinien sehe und spühre. Ich starte eine Astrale Meditation, die mich schließlich in Ohnmacht fallen lässt. Vorher merke ich aber, dass ich in unfassbarer Art meine Körperkraft in astrale Macht umwandeln kann. Es ist wahrlich unglaublich, wie Magie hier wirkt. Hier sollte nicht ein Praioskloster, sondern eine heilige Stätte der Hesinde stehen!
Ich werde von Cordovan und Emmeran geweckt. Dass ich hier nur kurz gelegen habe, können sie mir nicht glaubhaft vermitteln. Sie haben sich offensichtlich nicht gleich um mich gekümmert, sondern eine Untersuchung des Greifenkopfs am Sarkophag de Motts vorgenommen, in den man wohl einen Gegenstand einführen kann, um etwas zu entriegeln oder zu aktivieren. Cordovan hat dafür meinen Dolch entwendet. Wieso hat er mich nicht zuerst geweckt und dann gefragt? In welche Gefahr er mich gebracht hat, schließlich hätte etwas passieren können, dass uns alle gefährdet hätte, wäre er erfolgreich gewesen. Oder wenn uns jetzt doch jemand bemerkt hätte, was dann? Ich hätte hilflos dort gelegen. Nachdem ich den Dolch wieder an mich genommen habe, dränge ich darauf, die Krypta zu verlassen. Nachdem ich festgestellt habe, dass mir sonst nichts entwendet wurde, beruhige ich mich ein wenig und denke an Dinge, die mich mit Emmeran und Cordovan verbinden, um diese schrecklichen Zweifel zu zerstreuen. Wenn ich ihnen nicht mehr traue, dann fehlt mir jeglicher Halt. Gerade jetzt, wo Cordovan durch seinen Einbruch in die Krypta Emmeran und mir entgegen kommt, will ich keine neuen Gräben ziehen.
Bevor wir uns schlafen legen, berichte ich den beiden davon, was ich gesehen habe. Ich kann nicht sofort einschlafen, so erschöpft ich auch bin. Vieles geht mir durch den Kopf: Ich muss dringend in die Bibliothek. Wenn de Mott ausgerechnet die Gezeichneten in Zeiten der Finsternis auf seinem Grab verewigt, so muss es dort noch mehr geben, was mit dieser Sache zu tun hat. Ich will mir die Untersuchung ansehen. Vielleicht findet man mehr heraus, wenn man weiß, dass ein Teil der Konstellation Neu- oder Vollmond sein müssen. Und ich will in den Keller und in das Verließ, um auch dort mittels der Steine nach dem Gewebe zu suchen. Was, wenn es alles Teil eines großen Ganzen ist? Wenn sich alles über verschiedene Gebäude verbindet? Wenn es ein riesiges magisches Zeichen ist oder das Kloster gar ein magisches Artefakt, das man benutzen kann? Gar ein magischer Apparat? Gedanken schießen mir durch den Kopf, Gedanken befeuert durch die Furcht vor dem, was Borbarad hier anstellen könnte und der Macht, die ich in mir gespürt habe.