Nachts im Bergfried
Kloster Arras de Mott, den 10. Rondra, nachts
Wir sind uns einig, dass wir das Rätsel des Klosters vor dem nächsten Vollmond lösen müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Somit bleibt uns eine gute Woche, um Arras de Motts ‚Offenbarung der Sonne‘ zu finden oder den Gegenstand, der den Mechanismus am Sarkophag betätigt. Wir vermuten, dass es eine geheime Kammer im Bergfried gibt und machen uns dorthin auf, sorgsam die Blicke der Harpien meidend.
Beim Verlassen des Tempels entdecken wir eine große Katze, die uns zu folgen scheint. Ich verharre und warte auf das Tier, das ohne Scheu an mir vorbeischleicht, dabei jedoch kurz innehält und mich aus intelligenten Augen zu mustern scheint. Ich konzentriere mich auf meine magische Kraft. Der Blick in die Gedanken der Katze bleibt mir zunächst verwehrt und ich will mich schon frustriert abwenden, als ich plötzlich vor meinem inneren Auge ein Bild des Klosters sehe, dass in helles Licht getaucht zu sein scheint. Irgendwo darin – so vermittelt mir das Gedankenbild der Katze – ist jedoch ein dunkler Schatten verborgen, den es zu finden gilt. Dann bricht die Gedankenverbindung schlagartig wieder ab – was bleibt ist ein Gefühl der Vertrautheit.
Ich überlege noch, wie ich den anderen diese Ideen und Gefühle nahe bringen kann, als ich ein Fauchen höre. Wolfhart hat mit seinem Stab nach dem Tier geschlagen; schon ist er dabei, einen Zauber zu wirken. Ich bemerke wie sein Rubinauge kurz zu leuchten scheint, dann jedoch wieder erlischt. Später erklärt er, wie er erkannt hat, dass dem Tier eine sehr starke Magie innewohnt. Kurz darauf scheint sie ihm wieder wie eine gewöhnliche Katze, obwohl sein Zauber noch wirkt.
Die Katze flieht vor Wolfhart auf das Dach des Dormitoriums, wo wir sie kurz darauf aus den Augen verlieren. Wir besinnen uns auf unser eigentliches Ziel und setzen unseren Weg zum Bergfried fort. Wortlos drückt Cordovan mir den Schlüsselbund in die Hand und nimmt demonstrativ seinen Platz vor dem Eingang ein, an dem er die letzten Nächte Wache gehalten hat.
Wolfhart und ich betreten den Bergfried und verschließen die Tür hinter uns. Wir begeben uns auf die Suche nach verborgenen Zugängen und erforschen zunächst die uns bereits von mehreren Besuchen bekannten Räume im Erdgeschoss sowie den Keller. Leider bleiben unsere Anstrengungen erfolglos. Da die Zeit drängt, durchqueren wir schnell das Skriptorium und öffnen mit dem letzten noch unbenutzten Schlüssel von Bormunds Bund die Tür zur Bibliothek. Eine Treppe führt von dort in das dritte Stockwerk des Turmes, wo wir weitere Regale vorfinden, die teilweise mit Büchern gefüllt sind. Ein weiterer Aufgang führt zum Dach des Turmes. Kurz bevor das Kloster zur Morgenandacht erwacht, verlassen wir eilig den Turm, um nicht doch noch entdeckt zu werden.
Vor dem Gästehaus erwartet uns wiederum die Katze. Ein Blick in die Gedanken des Tieres bleibt mir diesmal völlig verwehrt. Wolfhart berichtet, dass er nur leichte Magie in dem Tier erkennen kann. Meine Intuition sagt mir, dass von dem Tier keine Gefahr ausgeht, so dass ich keine Bedenken habe, als es uns ins Innere des Gästehauses folgt, wo wir uns zur Ruhe begeben.
11. Rondra, tagsüber
Beim Mittagsmahl fragen wir Hüter Quanion erneut nach seinen Nachforschungen. Er hält sich jedoch in Abwesenheit des Klostervorstehers merklich zurück. Erst als Wolfhart ihn auf die Gezeichneten und das Rubinauge anspricht, zeigt er eine Reaktion. Er wirkt zunehmend nachdenklich und scheint die Begriffe einordnen zu können, bleibt jedoch verschlossener denn je. Wolfhart und Cordovan, die sein Zögern ebenfalls bemerkt haben, zitieren daraufhin aus den Prophezeiungen zur Rückkehr Borbarads.
Quanion scheint mir ernster als zuvor, aber auch ehrlicher. Er mahnt uns eindringlich zur Vorsicht und erinnert uns an den Auftrag seines Ordens, verborgenes Wissen vor den Menschen zu verwahren. Deshalb könnten wir weder von den Ordensbrüdern noch von den Bannstrahlern Nachsicht mit unserer Neugier und unserem Wissensdurst erwarten. Ich frage mich, was ihn dieses Eingeständnis wohl gekostet haben mag und kann nicht umhin, ihn für seine Haltung zu respektieren. Auch für ihn muss die Situation mehr als schwierig sein.
Als Hüter Bormund sich zu uns setzt, verstummt jegliche Unterhaltung. Hüter Quanion verlässt als Erster den Speisesaal, und bald bleiben einzig Cordovan und Bormund schweigend zurück.
Am Nachmittag ruht Wolfhart sich erneut von den Anstrengungen der letzten Tage und Nächte aus, während Cordovan vergeblich die zerstörten Gebäude des Klosters nach weiteren Kellerzugängen untersucht. Ich nutze die Zeit, um nach Arthag zu sehen und bin erfreut festzustellen, dass er zwar noch immer ob seiner Behinderung gemieden wird, seine Arbeit mit Holz und Steinen allerdings durchaus Anerkennung findet.
Beim Abendessen sucht Wolfhart frisch gestärkt erneut das Gespräch mit dem Hohen Lehrmeister und bietet seine Hilfe bei der Auswertung der Quellen an, an denen Hüter Quanion nach wie vor arbeitet. Wenig überraschend lehnt de Mott das Angebot mit einem Verweis auf die strengen Ordensregeln ab und mahnt Wolfhart zur Geduld.
11. Rondra, nachts
Wie gestern kontrollieren wir zuerst die Schlafräume der Mönche und Novizen. Erst als wir sicher sein können, dass alle zur Ruhe gekommen sind, schleichen wir ein weiteres Mal auf den Bergfried zu, wo wir der Katze begegnen, die aus Richtung des Klostergartens auf uns zukommt. Als wir den Turm betreten, huscht sie schnell herein. Noch während ich überlege, ob sie uns bei der Suche helfen kann, packt Cordovan das sich sträubende Tier und befördert es unsanft hinaus. Dann bezieht er Stellung auf seinem Wachposten.
Wolfhart und ich gehen geradewegs in die Bibliothek. Mir kommt der Gedanke, nach dem von uns im Buch mit lokalen Mythen platzierten Pergament zu sehen. Dieses befindet sich an anderer Stelle zwischen den Seiten und markiert jetzt den Beginn einer Erzählung mit dem Titel ‚Das Märchen vom Wundertal‘. Welch eine Gelegenheit – eine weitere Geschichte für meine Sammlung! Das Buch steckt wirklich voller Überraschungen. Ich vertiefe mich in die Seiten und lese mit Erstaunen die Geschichte eines Bäuerleins, das in der Nähe eines Berges namens Goldspitze ein von Elementarherren bewachtes Tal erkundet und sich drei Wünsche erfüllen lässt. Gerade will ich Wolfhart davon berichten, da muss ich feststellen, dass er nicht auf mich gewartet hat.
Ich finde ihn an Quanions Arbeitsplatz, den er mit spitzen Fingern untersucht hat. Zwischen Büchern zu Sternenkonstellationen und Alchemie finden sich dort eine Reihe Notizen, die zeigen, dass Quanion unsere Warnungen durchaus sehr ernst genommen hat. Auch seine Überlegungen richten sich auf den nächsten Voll- bzw. Neumond, und auch die Orakelsprüche von Fasar und die Prophezeiungen von Al‘ Anfa sind ihm bekannt.
Schließlich erinnern wir uns daran, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben und machen uns daran, noch einmal nach geheimen Zugängen zu einer Schatzkammer zu suchen. Hoffentlich haben wir heute mehr Glück…