Gedanken von Helme Ehrwald
Bei den Zwölfen, welch ein Durcheinander! Wäre dies ein bezahlter Auftrag, ich müsste ihn ablehnen. Zu undurchschaubar und verworren scheint mir die ganze Geschichte. Der junge Herr Baron braucht eher einen Magier denn einen Leibwächter, damit überhaupt erstmal klar wird, woher die Gefahr droht.
Doch ziemt es sich nicht, zu hadern und zu zaudern, wenn Travia selbst ein so eindeutiges Zeichen sendet. Und gerade nach dem, was bei der Ausführung meines letzten Auftrages passiert ist, ist es wohl nichts weniger als meine rondragefällige Pflicht, den künftigen Baron vor Unheil zu schützen.
Allein meine Gefährten sind bisher keine Hilfe gewesen. Fast muss man noch aufpassen, dass sie sich nicht um Kopf und Kragen reden. Der einzig brauchbare Kopf scheint mir Jasper zu sein, aber gerade wenn man sein Wissen am meisten brauchen konnte, erholte er sich von einer Pilzvergiftung der übelsten Sorte.
Sicher hätte er etwas mit der Geschichte anfangen können, die wir dem Wilderer entlockt haben, der behauptete, den weißen Hirschen leibhaftig im Forst gesehen zu haben. Und auch wenn wir in dem Ritual der Jagd auf den weißen Hirschen eher einen Mythos vermuten als einen konkreten Hinweis auf die Bedrohung, die über der Burg schwebt, so war es doch unnötig, den armen Mann zu verhöhnen oder einen Lügner zu schimpfen, so freimütig wie er uns alles erzählt hat.
Schlimmer noch auf dem Gauklerfest: Kaum waren die Töne des Liedes vom Basiliskenkönig verklungen, stürmten Ella und Navadanion auf den Wagen des Sängers zu anstatt die anderen Darbietungen zu bewundern. Als ob der gute Mann nur auf uns gewartet hätte. Unauffällig war das nicht gerade! Immerhin gab auch er uns bereitwillig Auskunft, und auch wenn er die Bedeutung der Worte nicht erklären konnte, so ging er doch den Text noch einmal mit uns durch, der uns auf unangenehme Weise an unsere erste Begegnung mit Traviane erinnert hatte und vielleicht einen Hinweis auf die Geschehnisse geben konnte:
Moritat
Im Zentrum der Welt, der Erde geweiht,
stand einst eine Stadt voll von Herrlichkeit.
Ein elfischer Traum, der Vollendung nah:
das stolze, das schöne Simyala.
Die Elfen waren stolz, in Dünkel entbrannt,
galt ihr Werk doch als Zierde der Zierden im Land.
Niemand hörte die Stimmen der Vettern im Wald,
denn wo Hochmut gedeiht, naht das Ende schon bald.
Refrain:
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
zu binden das Böse, denn Böses schläft nicht!
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
Fürchtet den Tag, da der Spiegel zerbricht!
So geschah es: Das, was kleinen Namen hat,
warf seinen Blicke auf die Elfenstadt.
Und es entschied in finsterer Grausamkeit,
dass Stadt und Bewohner zum Sterben bereit.
Der Hochmut der Elfen, er machte sie blind,
zu entlarven die Lügen, geflüstert vom Kind.
Als das Band von Liebe und Freundschaft zerbrach,
der dunkle Zerstörer sein Urteil sprach
Refrain:
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
zu binden das Böse, denn Böses schläft nicht!
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
Fürchtet den Tag, da der Spiegel zerbricht!
Des Basilisken Macht kam mit Urgewalt,
sein faulender Brodem versengte alsbald.
Ein Drittel der Elfen, sie starben in Pein,
ein Weit’res fiel den Scharen von Ratten anheim.
Die Letzten der Elfen, sie fassten den Mut,
Als Katz’ sich zu wehren der nagenden Flut.
Sie wetzten die Krallen, zu halten die Wacht,
die Bestie zu binden, bei Tag und bei Nacht.
Refrain:
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
zu binden das Böse, denn Böses schläft nicht!
Drum vergesst die Lieder der Lieder nicht,
Fürchtet den Tag, da der Spiegel zerbricht!
— Die Weise vom Basiliskenkönig, angeblich auelfisches Liedgut, übersetzt und neuinterpretiert vom berühmten Bardenkönig Aldifreid
Leider konnte nicht einmal Navadanion auf Anhieb einen Sinn darin erkennen, so dass wir beschlossen, die Worte später auf der Burg noch einmal in Ruhe zu bedenken. Ich wollte mich der Tarnung halber einer tänzerischen Darbietung hingeben, als noch etwas anderes Ungewöhnliches geschah. Ella war es in den Sinn gekommen, sich die Zukunft vorhersagen zu lassen, und wenn man es denn glauben mag, so überkam die Wahrsagerin bei jedem von uns eine machtvolle Vision, von der sie behauptet, dies sei eine spezielle Erfahrung, die mit großen Veränderungen auf Dere einhergehe. Wir haben ihre Worte aufgeschrieben, um sie später noch einmal zu besprechen:
Weissagung 1:
‘Achte auf die Sonne deines inneren Heiligtums, und darauf, dass deine Gedanken den weißen Weg gehen. Du wirst der Finsternis im Gewände des Lichts begegnen und selbst ein Licht in großer Finsternis sein. Wenn du verzweifelst, denke dran, dass Gemeinschaft vereiteln kann, was Einsames in Bosheit ersonnen hat. Der Fall des Schattens wird die Schlacht nicht verhindern, die erst begonnen hat — aber sie wird einst den Sieg ermöglichen.”
Weissagung 2:
“Was eins war, will wieder eins werden, wenn der Knappe der Magierin begegnet. Doch Dunkelheit verfinstert die Sonne, und es ist ungewiss, ob das Herdfeuer eines —deines? -Altars dem Schatten standzuhalten vermag. Nichts wird wieder so sein, wie es einst war. Ein Wächter wird fallen und muss gerettet werden. Das Geheimnis des Windes kann seiner Bestimmung nicht entgehen!”
Weissagung 3:
“Die schwarze Spinne wird deinen Weg kreuzen. Hüte dich, denn ihr Netz wurde bereits vor langer Zeit gespannt. Mache um ihre Falle einen Bogen, bis du mit dem Schwert der Erkenntnis gewappnet bist und ihr Lügengespinst zerschlagen kannst. Wahrheit und Erkenntnis stecken in einem Lied, auch wenn dir die wahre Erkenntnis so lange verborgen bleiben wird, bis du im Traum vom Licht berührt wirst.”
Nun ist aber Eile geboten, denn Traviane hat uns ermöglicht, die Gäste beim Festmahl auf der Burg zu beobachten. Vielleicht ergibt sich daraus ja ein Hinweis, wer dem künftigen Baron schaden will. Herr Praios, steh mir bei und hilf mir, diese List zu durchschauen und einen kühlen Kopf zu bewahren.